„Wiederkommen, nochmal wiederkommen, Vertrauen aufbauen“
Als Sondergesandter der Bundesregierung für die Länder des westlichen Balkans engagiert sich Manuel Sarrazin unermüdlich für die Heranführung der Region in die EU.
Warum dauert das so lange? Eine Frage, mit der Manuel Sarrazin, Sondergesandter der Bundesregierung für die Länder des westlichen Balkans, oft konfrontiert wird. Gemeint ist der EU-Beitritt der Länder Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. „Das Versprechen gibt es jetzt seit 20 Jahren. Und passiert ist bislang wenig. Ehrlich gesagt haben wir das Gefühl, man will das einfach aussitzen“, sagt Muhamet Idrizi, erster Vorsitzender von Oda e. V., einer Organisation deutsch-albanischer Akademiker aus Hamburg. Zusammen mit einer Gruppe von 30 Vertreterinnen und Vertretern der kosovo-albanischen Diaspora aus ganz Deutschland ist er zu Gast im Auswärtigen Amt, um den Austausch mit Sarrazin zu suchen. Viele der Anwesenden machen sich Sorgen um die Region, speziell um die jüngsten Spannungen zwischen Serbien und Kosovo. An dem Gespräch nimmt auch Niels von Redecker teil, Referatsleiter Westlicher Balkan im Auswärtigen Amt.
Idrizi kennt Sarrazin noch aus dessen Zeit als Abgeordneter. Von 2008 bis 2021 saß Sarrazin für die Grünen im Bundestag und machte sich einen Namen als Balkan-Experte. Die Stimmung bei dem Treffen ist herzlich, aber auch fordernd. Man wolle die Gelegenheit nutzen, um einmal „Tacheles“ zu reden, um die Zusammenhänge zu verstehen, die hinter der aktuellen Westbalkanpolitik Deutschlands und der EU stünden, so Idrizi. Je konkreter, desto besser. „Woran ist die Mitgliedschaft Kosovos im Europarat tatsächlich gescheitert?“, möchte etwa ein junger Mann wissen. Im April 2024 hatte die Parlamentarische Versammlung des Europarats mit großer Mehrheit einen Beitritt Kosovos empfohlen. Die Hoffnung der Parlamentarierinnen und Parlamentarier, dass eine große Mehrheit der Mitgliedsstaaten des Europarats beim Ministerkomitee im Mai für eine Aufnahme stimmen wird, hat sich nicht erfüllt. „Wir fanden das extrem schade und haben nicht wirklich verstanden, wie es dazu kommen konnte.“
Hybride Diplomatie
Sarrazin schweigt kurz, blickt hochkonzentriert und setzt dann zu einer so differenzierten Antwort an, dass recht deutlich wird, warum sich die Bundesregierung seit 2022 einen eigenen Sondergesandten für eine Region mit circa 17 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern leistet – einen Posten, den es in dieser Form vorher gar nicht gab. Sarrazin kennt den Balkan sehr gut, ständig ist er in der Region unterwegs, steht in engem Kontakt mit allen Regierungschefs der Region. Sein Status ermöglicht ihm besondere Handlungsspielräume. „Ich kann über das Komma in einem Abkommen verhandeln, mich aber auch auf diplomatisch auf höchster Ebene austauschen“. Als „hybride Diplomatie“ beschreibt er seine Aufgabe, eine Rolle zwischen Politik und Diplomatie. „Ich kann innerhalb eines Monats auch mal drei Folgebesuche machen, wenn es der Sache dient. Wenn man so will, agiere ich als eine Art erweiterter Kalender des Bundeskanzlers und der Außenministerin.“
Berlin-Prozess
Für Sarrazin gehören die Länder des westlichen Balkans in die EU, trotz mancher Schwierigkeiten. „Mein Mandat ist es, dazu beizutragen, die Region an die EU heranzuführen.“ Ein Teil davon ist der sogenannte Berlin-Prozess, eine 2014 von Deutschland gestartete Initiative mit dem Hauptziel, die regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verbessern. „Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, einige Vorzüge der EU schon in ihrem konkreten Alltag zu erleben. Und zwar unter anderem durch die Schaffung eines gemeinsamen regionalen Marktes für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen, der Schritt für Schritt näher an den europäischen Binnenmarkt herangeführt wird“, erklärt Sarrazin.
Dazu gehören auch drei Mobilitätsabkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Personalausweisen sowie Universitäts- und Berufsabschlüssen, auf die sich die Westbalkanstaaten 2022 untereinander einigen konnten. „Das war einer meiner ersten Einsätze“, erinnert sich Sarrazin. „Damals ging das Gerücht um, einer der entscheidenden politischen Akteure in der Region stehe einem der Abkommen kritisch gegenüber. Also bin ich dorthin gereist, um mich mit ihm zu treffen. Die Politik auf dem Westbalkan ist sehr von Individuen geprägt. Überhaupt: Was in der Politik mit am meisten unterschätzt wird, ist die Bedeutung individueller Ansprache.“
Dazu gehört auch Beharrlichkeit. Wenn es sein muss, trifft sich Sarrazin innerhalb weniger Wochen drei- bis viermal mit demselben Regierungschef. „Wiederkommen, nochmal wiederkommen, Vertrauen aufbauen – das ist ganz wichtig in der Region.“ Und Sarrazin versucht in seinen Gesprächen auch, einen „neuen Standard an Deutschlandkommunikation“ in die Länder zu tragen, wie er sagt. Ein Beispiel: Am 6. April 2024 war er in Belgrad, um nun bereits zum zweiten Mal anlässlich des 83. Jahrestags der Zerstörung der dortigen Alten Nationalbibliothek durch deutsche Bomben der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu gedenken. „Wir versuchen proaktiv, solche schwierigen Themen anzusprechen und Erinnerungskultur vorzuleben. Auch, um der russischen Propaganda den Wind aus den Segeln zu nehmen. Alle Medien berichteten darüber, sogar prorussische Websites und Sender.“
Keine EU-Geopolitik ohne den Westbalkan
Warum ist es so wichtig, dass der Westbalkan Teil der EU wird? Sarrazin ist da ganz klar: „Es ist eine Region, die uns menschlich und kulturell sehr nahe ist. Dass sie weiterhin außerhalb der europäischen Ordnung bleibt, kann nicht unser Ziel sein.“ Ganz zu schweigen von der gestiegenen Bedeutung einer gemeinsamen, geopolitischen Strategie in der EU. 2021 traf Sarrazin gemeinsam mit Wirtschaftsminister Robert Habeck den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. „Er fragte uns, wie er denn darauf hoffen könne, dass die Ukraine Mitglied der EU wird, wenn es nicht einmal Nordmazedonien schaffe. Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine geopolitisch glaubwürdig agierende EU nur denkbar ist, wenn wir den Balkan erfolgreich integrieren.“