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„Fehlende Erinnerungskultur“

Die Philosophin Susan Neiman über ihr Leben als Amerikanerin in Berlin und eine unvollkommene Wiedervereinigung.

02.10.2020
Susan Neiman ist Direktorin des Einstein Forums in Potsdam
Susan Neiman ist Direktorin des Einstein Forums in Potsdam

„1982 kam ich mit einem Fulbright-Stipendium zum ersten Mal in die Mauerstadt. Ursprünglich hatte ich vor, ein Jahr zu bleiben, doch Berlin faszinierte und fesselte mich – vor allem wegen der Beschäftigung mit der deutschen Geschichte. ‚Vergangenheitsaufarbeitung‘ war ein Fremdbegriff, der mich anzog. Natürlich wollte ich wissen, wie er in Ost-Berlin angewendet wurde. Politisch war ich immer links eingestellt, doch bin ich in einem Amerika aufgewachsen, dessen Identität auf dem Antikommunismus aufgebaut wurde. Die Chance, mit der U-Bahn hinter den Eisernen Vorhang zu fahren, war reizvoll. Selbstverständlich wusste ich, dass der Verkehr eine Einbahnstraße war, und das vieles in der DDR fehlte. Ich wollte aber wissen, was dort vorhanden war.

Als Amerikanerin fühlte ich mich damals willkommener im Osten, weil dort wenigstens bekannt war, dass es ein anderes Amerika als Reagan und McDonald’s gab – auch wenn Ostdeutsche den Einfluss von, zum Beispiel, Angela Davis überschätzten. Auch als Jüdin fühlte ich mich wohler, denn etwas an dem Antifaschismus in Ostdeutschland schien mir tiefergehender als das, was im Westen vorhanden war. Die Instrumentalisierung des Antifaschismus in der DDR war offensichtig – schon der Name ‚Antifaschistischer Schutzwall‘ war absurd. Doch die Haltung der Ostdeutschen, zu denen ich Kontakt hielt, war echt.

Umso mehr staune ich, dass 30 Jahre nach der Wiedervereinigung keine Gesamtdeutsche Erinnerungskultur besteht. Alles, was in der DDR zum Thema Nachkriegserinnerung gemacht wurde, wird heute von den meisten Westdeutschen als ‚verordneter Antifaschismus‘ verworfen. Der Vorwurf ist kurios – hätte man einem faschismusdurchseuchten Volk etwa nicht den Antifaschismus verordnen sollen?

Niemand würde behaupten, dass der Antifaschismus der DDR vollkommen oder fehlerfrei war. Doch bis Ost- und Westdeutsche ohne Ideologie und Verachtung über ihre Nachkriegsgeschichten diskutieren können, wird es keine vollkommene Wiedervereinigung geben.“

Professor Susan Neiman ist Direktorin des Einstein Forums in Potsdam, einer Stiftung des Landes Brandenburg, die der Öffentlichkeit als Ort des intellektuellen Austauschs dient. Die in Atlanta geborene Neiman studierte Philosophie in Harvard und an der Freien Universität Berlin. Bevor sie im Jahr 2000 ans Einstein Forum kam, war sie Professorin für Philosophie an den Universitäten Yale und Tel Aviv.

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