International Booker Prize für Jenny Erpenbeck
Die deutsche Schriftstellerin Jenny Erpenbeck hat den International Booker Prize gewonnen. Zusammen mit ihrem Übersetzer Michael Hofmann erhielt sie den bedeutenden britischen Literaturpreis für ihren Roman "Kairos".
Die Vorsitzende der Jury, Eleanor Wachtel, hob Erpenbecks "leuchtende Prosa" hervor, welche "die Komplexität einer Beziehung" und die Atmosphäre Ost-Berlins beschreibe. "Es beginnt mit Liebe und Leidenschaft, aber es geht mindestens genauso sehr um Macht, Kunst und Kultur", fuhr sie fort.
International ist die Autorin bekannt und beliebt. Bereits 2017 sagte James Wood, der berühmte Kritiker der Zeitung "New Yorker", voraus, dass "diese Schriftstellerin in ein paar Jahren den Literaturnobelpreis bekommen wird". Diese Schriftstellerin: Das ist Jenny Erpenbeck - im Ausland ein Star, dessen Werk mit Preisen überhäuft wurde. In Deutschland allerdings fragt sich so mancher Leser: "Jenny wer?" Unwillkürlich stellt sich die Frage: Warum läuft es in der Heimat nicht so gut für die Autorin?
Es ist nicht so, dass Jenny Erpenbeck in Deutschland eine Unbekannte wäre - im Gegenteil. Sie hat eine treue Leserschaft, und fast jedes Jahr darf sie sich über einen neuen Literaturpreis freuen. Auch ihr 2021 erschienenes Buch "Kairos", das jetzt für den Booker Prize ausgezeichnet wurde, wurde schon vorher prämiert. Allerdings wurde dieses international gefeierte Werk weder mit dem renommierten Preis der Leipziger Buchmesse oder dem wichtigen Büchner-Preis noch dem Deutschen Buchpreis geadelt - noch nicht mal nominiert war es.
"Ostdeutsche" Probleme
Vielleicht stimmt es ja, was Jenny Erpenbeck vermutet: Ihrem Gefühl nach ist die Mauer zwischen der DDR und dem Westen Deutschlands nie wirklich gefallen, eine westliche Kulturhoheit bestimme die Diskurse.
Jenny Erpenbeck, Jahrgang 1967, ist Ostdeutsche. Als die Mauer fiel, war sie 22. Der Staat, in dem sie aufwuchs, ging unter. Sie fand sich in einem neuen Land wieder: der Bundesrepublik Deutschland - und unter Westdeutschen, die sich wenig für die Geschichte der DDR interessierten.
In ihrem Buch "Kairos" geht um den Niedergang der DDR. Die geringe Resonanz auf das Buch sei kein Zufall, sagte sie gegenüber der Zeitschrift "Die Zeit", denn in den Buchpreisjurys des Kairos-Jahrgangs sei kein einziges Mitglied ostdeutscher Herkunft gewesen. Daher sei ihr Buch wohl nicht berücksichtigt worden. "Ich interessiere mich ja auch nicht für eure Probleme. Das tausendste Buch über die 68er zum Beispiel", sagt sie dem westdeutschen Journalisten. "Obwohl - die sind ja eigentlich noch ganz interessant …"
Der Untergang der bekannten Welt
"Kairos" erzählt von Umbrüchen im Leben. Es ist die Geschichte einer toxischen Liebe vor dem Hintergrund der untergehenden DDR - zwischen einer jungen Frau und einem 34 Jahre älteren Mann, einst Faschist in Nazideutschland, jetzt überzeugter Kommunist. Es ist auch die Geschichte von Kunstschaffenden in der DDR - in einem Staat, in dem die Zensur allgegenwärtig war, mussten sie Kritik "zwischen den Zeilen" verstecken. "Denn Kunst (...) war darüber hinaus vielleicht das einzige Kommunikationsmittel, über das Verständigung innerhalb der Gesellschaft noch möglich war. Wenn man die Zeitung aufgeschlagen hat, war das ja eine ganz unwirkliche Sprache", so Erpenbeck 2022 gegenüber der DW.
"Kairos" erzählt von Menschen, die den Regimewechsel vom kommunistisch-sozialistischen Regime in einen Staat mit freier Marktwirtschaft erleben. Ein Erdbeben, das ihr Selbstverständnis von Grund auf erschüttert. Die Trennung der Liebenden in "Kairos" versinnbildlicht die Haltlosigkeit, der sie durch den Untergang ihrer Welt ausgesetzt sind. "Was vertraut war, ist im Verschwinden begriffen. Das gute, üble Vertraute", lässt Erpenbeck ihre Protagonistin sagen.
Sie weiß, wie sich der Zerfall der DDR anfühlte, den sie so eindringlich beschreibt. 2018 verfasste sie ein Essay für die Frauenzeitschrift "Emma", darin heißt es: "Von Freiheit war plötzlich viel die Rede, aber mit diesem Begriff Freiheit, frei schwebend in allen möglichen Sätzen, konnte ich wenig anfangen. Reisefreiheit? (Aber wird man die Reisen denn auch bezahlen können?) Oder Meinungsfreiheit? (Und wenn meine Meinung dann niemanden mehr interessiert?) … Die Freiheit war ja nicht geschenkt, sie hatte einen Preis, und der Preis war mein gesamtes bisheriges Leben. Der Preis war, dass das, was sich eben noch Gegenwart genannt hatte, nun Vergangenheit hieß…. Meine Kindheit gehörte von nun an ins Museum."
Eine Familientradition: die Schriftstellerei
25 Jahre ist es her, dass Jenny Erpenbecks Leben sich von Grund auf änderte. Noch in der DDR hatte sie eine Ausbildung zur Buchbinderin absolviert, dann als Requisiteurin gearbeitet, bevor sie ein Studium der Theaterwissenschaft und später Musikregie aufnahm. Doch nicht nur die Bühne hatte es ihr angetan, sondern auch die Schriftstellerei. Die liegt ihr im Blut. Schon ihre Großeltern gehörten der schreibenden Zunft an: Großvater Fritz Erpenbeck, nach dem in Ostberlin eine Straße benannt ist, ebenso wie seine Frau Hedda Zinner. Vor den Nazis floh das kommunistische Paar nach Moskau. Auch ihr Vater John, eigentlich Physiker, veröffentlichte mehrere Bücher.
Jennys Debüt erschien 1999: "Geschichte vom alten Kind". "Ein Mädchen wird gefunden, niemand weiß, woher es kommt, niemand weiß, wer seine Eltern sind. Niemand, auch das Kind selbst nicht", ist auf dem Klappentext zu lesen. Viele sahen in der Novelle eine Parabel auf DDR-Bürger, die seit dem Ende ihres Staats der DDR eine starke Orientierungslosigkeit verspürten.
Motiv der Vergänglichkeit allgegenwärtig
Immer wieder beschäftigt sich Erpenbeck in ihrem literarischen Werk mit dem Motiv der Vergänglichkeit. In "Heimsuchung" durchleben die Bewohner eines Hauses gleich mehrere Umbrüche: die Weimarer Republik, das Dritte Reich, den Krieg und dessen Ende, die DDR, die Wende und die Zeit danach.
Erpenbecks Bestseller "Gehen, ging, gegangen" über die hoffnungslose Situation von Flüchtlingen in Berlin war 2015 unter den heißen Kandidaten für den Deutschen Buchpreis.
In dem Roman "Aller Tage Abend" stirbt ein Säugling, und Erpenbeck fragt: Was wäre gewesen, wenn das Kind überlebt hätte? Gleich mehrfach erweckt sie es zum Leben: als halbjüdisches Mädchen, als Kommunistin, die vor den Nazis aus Österreich nach Moskau flieht (eine Anspielung auf ihre eigene Großmutter) oder als gefeierte Autorin in der DDR.
Mit diesem Buch - bzw. der englischen Fassung "The end of Days" - gewann Erpenbeck 2015 zusammen mit der Übersetzerin Susan Bernofsky schon einmal den Booker Prize - nur dass er damals noch "Independent Foreign Fiction Prize" hieß.