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Koloniales Erbe, kulturelle Gerechtigkeit

2024 jährt sich der Beginn der historischen Berliner Kongo Konferenz von 1884/85 zum 140. Mal. Deutschland setzt sich intensiv für die Aufarbeitung seiner Kolonialgeschichte ein.

Bettina MittelstraßBettina Mittelstraß, 13.11.2024
Transkontinentale: „The Black Circus of the Republic of Bantu“
Transkontinentale: „The Black Circus of the Republic of Bantu“ © Sanele Thusi

Bis heute wirken sie fort – die schwerwiegenden Konsequenzen eines historischen Treffens in Berlin Ende 1884/Anfang 1885. Reichskanzler Otto von Bismarck hatte 1884 hochrangige Abgesandte der wichtigsten Kolonialmächte nach Berlin eingeladen. „Denn in dem bereits laufenden Prozess der Kolonialisierung gab es zwischen den Kolonialmächten immer mehr Konflikte“, erläutert der Historiker Dr. Felix Schürmann vom Forschungskolleg Transkulturelle Studien der Universität Erfurt. „Der Kernkonflikt war die Handelspolitik – das protektionistische Agieren der Kolonialmächte. Alle wollten zu ihrem eigenen Vorteil den Zugang zu Ressourcen und Exportmärkten in Afrika für andere beschränken.“ Um Krieg untereinander zu vermeiden, verständigten sich die Kolonialmächte auf der historischen Berliner Kongo Konferenz oder auch „Afrika Konferenz“ über ihre kolonialen Interessen in Afrika und unterzeichneten am 26. Februar 1885 ein Regelwerk, die sogenannten „Kongoakte“, an das sich danach aber niemand hielt.

Fast 35 Jahre deutsche Kolonialgeschichte 

An der brutalen Enteignung und Verschleppung unzähliger Kulturgüter aus Afrika vor und nach der historischen Berliner Kongo Konferenz änderte sich nichts, eher im Gegenteil. Die Konferenz unter Bismarcks Vorsitz markiert den Beginn der deutschen Kolonialgeschichte, die knapp 35 Jahre (1884-1919) bis zum Ende des ersten Weltkriegs andauerte. Das Deutsche Reich unterhielt zahlreiche Kolonien, darunter in den heutigen Staatsgebieten von Tansania, Burundi, Ruanda, Namibia, Kamerun, Togo und Ghana. Kolonien wurden zudem im chinesischen Kiautschou, den Pazifikinseln Papua-Neuguinea, Samoa, Nauru, Karolinen, Palau, den Marianen und den Marshall-Inseln errichtet.

Bis heute lagert zum Beispiel weltweit der größte Bestand aus dem Kulturerbe Kameruns in öffentlichen Museen der Bundesrepublik Deutschland. Das hat jüngst die Aufarbeitung im kamerunisch-deutschen Forschungsprojekt „Umgekehrte Sammlungsgeschichte“ mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zutage gebracht.

Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy
Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy © pa/dpa

Umfassende Restitutionsdebatte in Europa

Das internationale Team um die Kunsthistorikerin Professorin Bénédicte Savoy von der Technischen Universität Berlin veröffentlichte dank dieser Untersuchungen 2023 den „Atlas der Abwesenheit“ im Open Access. „Wir konnten zum ersten Mal aufdecken, dass die überwältigende Präsenz von 40.000 Stücken kamerunischen Kulturerbes in deutschen öffentlichen Museen heute ebenso viele Lücken in der Kulturgeografie Kameruns hinterlässt“, sagt Savoy, eine der international einflussreichsten Expertinnen für die Herkunft und Rückgabe von Kunstwerken und Beutekunst, die für ihre Arbeit zuletzt mit dem Clarke Prize for Excellence in Arts Writing 2024 ausgezeichnet wurde. „Diese Dialektik ist nur ein kleiner Aspekt der umfassenden Restitutionsdebatte, die wir seit etwa fünf Jahren in Europa erleben“, sagt Savoy. „Es geht insgesamt um einen ganzen Kosmos miteinander verbundener Problemfelder – um Mobilität und Grenzen, kulturelle Gerechtigkeit, Rassismus, eine Geschichte der Gewalt und auch Erkenntnistheorie.“

Außenministerin Annalena Baerbock traf im Dezember 2022 Geoffrey Onyeama, Außenminister der Bundesrepublik Nigeria, und Yusuf Maitama Tuggar, nigerianischer Botschafter in Deutschland. Schwerpunkt der Reise der Außenministerin war die Rückgabe der Benin-Bronzen.
Außenministerin Annalena Baerbock traf im Dezember 2022 Geoffrey Onyeama, Außenminister der Bundesrepublik Nigeria, und Yusuf Maitama Tuggar, nigerianischer Botschafter in Deutschland. Schwerpunkt der Reise der Außenministerin war die Rückgabe der Benin-Bronzen. © pa/dpa

Restitution und Provenienzforschung 

Kollaborative Forschungen zur Herkunft kolonialer Raubgüter sind die Grundlage für Restitution oder einen möglichen Ortswechsel von Kulturgut in die Herkunftsländer. 

Die Bundesregierung ebenso wie zahlreiche Expertinnen und Experten in Deutschland halten mehr Forschung zur deutschen Kolonialgeschichte deshalb für besonders wichtig. Seit 2022 widmen sich junge Forschende aus Staaten, die unter der deutschen Kolonialherrschaft standen, bislang unbeantworteten Fragen – in dem vom Auswärtigen Amt geförderten Programm German Colonial Rule (GCR) des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD).

Auch für internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet wird in Deutschland auf verschiedene Weise Fördergeld bereitgestellt – wie zum Beispiel vom DAAD im Programm TheMuseumsLab, das afrikanischen und europäischen Museumsfachleuten Vernetzung und Austausch ermöglicht. 

4.	Gedenkkopf eines Königs (Benin-Bronze), aufgenommen im Rahmen der Zeremonie zur Rückgabe der Benin-Bronzen an Nigeria in Abuja
Gedenkkopf eines Königs (Benin-Bronze), aufgenommen im Rahmen der Zeremonie zur Rückgabe der Benin-Bronzen an Nigeria in Abuja © pa/dpa

Rückkehr der Benin-Bronzen

Über zehn Jahre internationale Zusammenarbeit in der Benin Dialogue Group hat letztlich auch 2022 die Rückkehr von Skulpturen aus dem einstigen Palast im Königreich Benin – der sogenannten Benin-Bronzen – von Deutschland nach Nigeria vorbereitet. Außerdem erstellte das Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK) in Hamburg mit „Digital Benin“ ein digitales Wissensforum für die Zusammenführung weltweit zerstreuter Kunstwerke aus dem ehemaligen Königreich Benin.

Nach der Herkunft von Sammlungsbeständen aus Kolonialzeiten forscht auch Dr. Ohiniko Mawussé Toffa, seit 2024 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralarchiv und Ethnologischen Museum zu Berlin – einem Museum, das sich der kritischen Aufarbeitung des Kolonialismus verschrieben hat, nicht zuletzt weil dort die rund 75.000 Deponate aus dem Afrika-Bestand mit der Kolonialgeschichte Europas verbunden sind. „Provenienzforschung zu kolonialen Sammlungen ist noch ein junges Forschungsfeld. Auch methodisch und theoretisch gibt es da noch viel zu tun“, sagt Toffa. Zum Beispiel stehen Begriffe wie „Objekte“ zur Debatte. 

Ohiniko Mawussé Toffa ist Kolonialhistoriker und Germanist.
Ohiniko Mawussé Toffa ist Kolonialhistoriker und Germanist. © Staatliche Kunstsammlungen Dresden | Foto: Tom Dachs

Vom „Objekt“ zu Geschichten

„Ab wann ist ein Donnergott ein Museumsobjekt? Wie werden diese sogenannten Objekte oder diese Benin-Bronzen eigentlich in den lebendigen Kulturen der betroffenen Communities in Afrika genannt?“ Für Toffa fangen bei den Namen und Begriffen im Herkunftskontext auch die Geschichten an: „eine Kulturgeschichte, eine Religionsgeschichte, eine Spiritualität, eine Wissensgeschichte. Also das, was wir mit einem Objekt aus unserer eurozentrischen Sicht zurückbringen, kann sich dort in andere Dinge entfalten, die wir in Europa vielleicht nicht mehr kontrollieren können.“

Was passiert schließlich durch die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus mit Begriffen wie Rationalität oder mit Wissenschaftsgeschichte? „Vor uns liegt noch eine bedeutende epistemologische Aufgabe“, sagt auch Bénédicte Savoy. „Nämlich die Integration von Wissens- und Bedeutungskategorien, denen die Museen in ihrer Besessenheit zu kategorisieren derzeit nicht gerecht werden können. Mit anderen Worten: Es ist Zeit, selber mal zu schweigen und anderen zuzuhören.“

Wie geht Deutschland mit der eigenen Kolonialgeschichte um? Auf den Tag genau 140 Jahre nach dem 15. November 1884 – dem Auftakt zu der monatelang andauernden historischen Berliner Kongo Konferenz der wichtigsten europäischen Kolonialmächte – antwortet die deutsche Hauptstadt auf dem Festival „Dekoloniale – Was bleibt?“ mit der Diskurs-Veranstaltung „Dekoloniale Berliner Afrika Konferenz 2024“. Eine dezentrale Ausstellung, Workshop, Musik, Gespräche und eine ganztägige Stadttour mit Interventionen aus Wissenschaft, Kunst und Aktivismus ermöglichen außerdem über vier Tage hinweg eine vielseitige und kritische Auseinandersetzung mit deutscher Kolonialgeschichte.

Szene aus „The Black Circus of the Republic of Bantu“ im Rahmen der Transkontinentale
Szene aus „The Black Circus of the Republic of Bantu“ im Rahmen der Transkontinentale © Sanele Thusi

Moderne Antwort auf ein historisches Gipfeltreffen 

Das Mitte November 2024 stattfindende viertägige Festival „Dekoloniale“ ist der Höhepunkt eines umfangreichen Recherche-, und Ausstellungsprojekts zur Kolonialgeschichte, das von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Kultureinrichtungen des Landes Berlin getragen und von der Kulturstiftung des Bundes gefördert wurde. Fast zeitgleich präsentiert das Festival „Transkontinentale“ dem Hauptstadtpublikum Tanz, Theater, Performance und Lyrik aus Kamerun, der Repepublik Kongo, Mosambik, Namibia, Nigeria, Ruanda und Südafrika.