„Im Westen nichts Neues“ ist mehrfacher Oscar-Kandidat
Der deutsche Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ ist für neun Oscars nominiert und hat sogar Chancen auf den Preis für den „Besten Film“. Interview mit Regisseur Edward Berger.
Bis vor Kurzem hatte es nur englischsprachige Verfilmungen des Antikriegsromans "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque gegeben. Der Regisseur Edward Berger wagte eine deutsche Interpretation - und die hat es in sich. Seit Ende Oktober 2022 läuft sie auf der Streaming-Plattform Netflix.
Einige Kritiker loben die Neuverfilmung als gelungenes Antikriegsdrama, andere bemängeln, dass der Regisseur neue Handlungsstränge dazu erfunden habe und Charaktere sowie entscheidende Szenen weglassen würde. Bei den diesjährigen Oscars gilt "Im Westen nichts Neues" als einer der Favoriten in der Kategorie "Bester Internationaler Film". Schon bei den Golden Globes, die im Januar 2023 verliehen wurden, stand er bis zuletzt hoch im Kurs, ging dann allerdings leer aus.
Edward Berger: "Film aktueller denn je"
Erich Maria Remarques 1929 erschienener Roman zeichnet das Porträt einer Generation, die von der Schulbank weg euphorisch an die Front zieht und am Ende in der mörderischen Kriegsmaschinerie des Ersten Weltkriegs umkommt.
Für Regisseur Edward Berger ist das Thema heute, 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, genauso aktuell wie damals. In Zeiten von wachsendem Populismus und Nationalismus sei es sogar aktueller denn je.
Vor drei Jahren, als Berger mit den Filmarbeiten startete, hätten ihn die politischen Entwicklungen in Europa und der Welt beunruhigt, wie er im DW-Interview erzählt. "Der Brexit im Vereinigten Königreich, eine rechte Regierung in Ungarn, ein Rechtsruck in den USA, Frankreich und Deutschland und aufstrebende Rechtsextremisten in vielen Ländern in Europa - plötzlich wurden Friedensgaranten wie die EU, die uns 70 Jahre lang ein sorgloses Leben bescherte, in Frage gestellt."
Hassreden von Regierungschefs oder von gewählten Volksvertretern hätte er sich früher nie vorstellen können. "Diese Rhetorik sickert auf die Straße. In der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit schnappe ich Sätze auf, die so auch in den 1930er-Jahren in Deutschland formuliert hätten werden können. Sätze wie: 'Wir sollten Angela Merkel an die Wand stellen'."
Dieses Wiedererstarken von Populismus und Nationalismus seien für ihn der entscheidende Grund gewesen, den Film "Im Westen nichts Neues" zu realisieren.
"Es war an der Zeit, einen Film zu machen, der uns daran erinnert, dass die Zustände vor dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) vielleicht gar nicht so anders waren, dass wir wieder da angekommen sind, wo wir schon einmal waren, auch wenn wir dachten, die Zeiten würden nie mehr zurückkehren."
1929 ist Remarques Roman "Im Westen nichts Neues" einer der größten Erfolge in der deutschen Literaturgeschichte. 1930 wird das Werk in den USA erstmals verfilmt und gewinnt zwei Oscars. 1979 folgt eine zweite Umsetzung und nun die dritte. Bergers Film ist die erste deutschsprachige Verfilmung von "Im Westen nichts Neues".
Warum gerade jetzt eine deutsche Version?
Warum so spät? "In amerikanischen und britischen Filmen gibt es immer Helden", so Berger, "doch in einem deutschen Kriegsfilm kann es keine Helden geben," führt er aus.
"Amerika wurde in den Ersten Weltkrieg hineingezogen, England hat sich verteidigt." Das hinterlasse eine ganz andere kollektive Erinnerung bei den Menschen und auch bei den Filmemachern, die in diesen Ländern aufgewachsen sind.
"Jede Entscheidung ist von Gefühlen beeinflusst. Da ich in Deutschland aufgewachsen bin, einem Land, in dem Kriegsgeschichten nicht von Stolz und Ehre - wie das vielleicht in England oder Amerika der Fall ist - sondern von Schuld, Scham und Verantwortung gegenüber der Geschichte handeln, liegt es in der Natur der Sache, dass diese Fassung von 'Im Westen nichts Neues' ganz anders ist als die Vorgänger aus Amerika und England."
In amerikanischen Kriegsfilmen könne man einen Deutschen erschießen, weil er eben der Böse sei. In deutschen Kriegsfilmen sei dagegen "jeder Tod ein schlechter Tod".
Berger erzählt eine alte Geschichte neu
Auf die Kritik, dass sein Film, anders als seine Vorgänger von 1930 und 1979, sich nur lose an der Romanvorlage orientiere, erwidert Berger: "Remarque selbst sagte einmal: 'Ein Buch ist ein Buch. Und wenn es verfilmt wird, ist es ein neues Medium.'" Filmemacher sollten und könnten sich Freiheiten erlauben. Sein Film sei eben eine Neuinterpretation. "Der Erste Weltkrieg liegt mehr als 100 Jahre zurück. Wir haben heute eine ganz andere Perspektive darauf."
Natürlich haben Berger und sein Team versucht, sich möglichst an Handlung und Figuren der Romanvorlage zu orientieren. Doch Berger war vor allem an den inneren Konflikten des Hauptcharakters Paul Bäumer interessiert und rückte diese in den Mittelpunkt.
"Der junge Paul Bäumer zieht mit Enthusiasmus in den Krieg. Er glaubt, dass er dank seiner Unschuld, seiner Jugend, ein Held sein wird. Sehr schnell merkt er dann aber, dass all das, was er als in Deutschland sozialisiertes Kind gelernt hat, im Schlamm des Krieges nichts wert ist. Er verliert seine Seele und verwandelt sich in eine Tötungsmaschine. Und es gibt für ihn keine Möglichkeit, jemals dorthin zurückzukehren, wo er hergekommen ist." So fasst Berger das Kernthema des Romans zusammen und zitiert indirekt das Vorwort Remarques zu dessen Roman: "Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde - auch wenn sie seinen Granaten entkam."
Tatsächlich verroht sein Protagonist im Laufe des Films und verwandelt sich vom enthusiastischen Neu-Rekruten zum vom Krieg traumatisierten Soldaten. "Wenn man im Krieg nicht sein Leben verliert, so doch seine Seele", das meint auch Berger.
Neuer Handlungsstrang mit Daniel Brühl als Matthias Erzberger
Der Regisseur und sein Team haben auch einen neuen Handlungsstrang in die Geschichte eingebaut, in dem Daniel Brühl den Sozialdemokraten Matthias Erzberger spielt. Er verdeutlicht die teils bürokratische Absurdität des Krieges und ordnet das Geschehen zeithistorisch ein.
Erzberger, der nach der Abdankung des deutschen Kaisers 1918 in Compiègne in einem Wald außerhalb von Paris den Waffenstillstand zwischen Frankreich und Deutschland unterzeichnete, ist für Berger eine sehr wichtige Figur in der deutschen Geschichte. "Wir haben heute das Privileg der Geschichte, zu wissen, wohin die Unterzeichnung dieses Waffenstillstands führte. Dass das Militär Erzberger später als Sündenbock benutzte, um ihm die Schuld für die Niederlage im Krieg zu geben." Erzberger wurde zwei Jahre nach Kriegsende von Nationalisten ermordet.
Die Verhandlungen um den Waffenstillstand dienen im Film auch als Mittel zum Zweck, um zu demonstrieren, dass der Konflikt nach Kriegsende weiterschwelte.
Der Erste Weltkrieg sei nur der Anfang gewesen. "17 Millionen Soldaten hatten bis dahin bereits ihre Leben verloren. Und nur 15 Jahre später wurde der Irrsinn noch schlimmer. Remarque hatte diese Perspektive noch nicht, als er vor dem Zweiten Weltkrieg seinen Roman verfasst."
Im Rennen um die Oscars
Bei den Golden Globes bekam "Im Westen nichts Neues" am Ende keine Auszeichnung; "Argentina, 1985" nahm den Preis für den "Besten fremdsprachigen Film" mit nach Hause. Edward Berger konnte wegen der Dreharbeiten für seinen neuen Film über die Papstwahl in Rom der Zeremonie nicht beiwohnen. Dabei war er mit seinem Schauspiel-Cast, darunter Ralph Fiennes, Stanley Tucci, John Lithgow und Isabella Rossellini, in bester Gesellschaft.
Nun darf er aber auf gleich mehrere Oscars hoffen: "Im Westen nichts Neues" ist nominiert in den Kategorien "Bester Film", "Bester Internationaler Film", "Beste Kamera", "Bester Ton", "Bestes adaptiertes Drehbuch", "Beste Filmmusik", "Bestes Szenenbild", "Beste visuelle Effekte" und "Bestes Make-Up und Hairstyling".
Dies ist eine aktualisierte Fassung des Artikels vom 9. Januar 2023.