Familie ist das Land, aus dem wir kommen
Junge israelische Künstler befassen sich mit ihren Familien – und damit auch mit der Vergangenheit, die in der Gegenwart lebt.
Ein dichter Wald, darin ein gebückter Mensch, ganz und gar mit Laub bedeckt, der langsam das Bild von rechts nach links durchquert. Hinter dem geduckten Laubmenschen geht eine weiß verschleierte Frau aufrecht und trägt Laub auf dem Arm wie eine Mutter ihr Neugeborenes. An der Wand gegenüber des Waldes tickt eine Kuckucksuhr. Über eine dritte, den Wald und die Uhr verbindende Wand flimmern Insignien städtischen Lebens als schmaler Ausschnitt einer parallelen Wirklichkeit. „Erlkönig“ hat die israelische Künstlerin Eden Auerbach Ofrat ihre Videoinstallation genannt. Eden Auerbach Ofrat ist eine von acht israelischen Gegenwartskünstlern, die bis zum 20. Januar 2020 im Kunstmuseum Bochum unter dem Titel „Family Stories – junge Kunst aus Israel“ ihre Werke zeigen. Die Künstler beobachten und beschreiben den Einfluss von Geschichte und Gegenwart, aber auch von Religion und Kultur auf ihre Familien und setzen die Erkenntnisse in ebenso unterschiedliche wie eigenständige künstlerische Projekte um.
Abschied von der Mutter
Für Eden Auerbach Ofrat ist die Installation „Erlkönig“ auf vielfache Weise mit der Welt verbunden, in die sie 1979 in Jerusalem hineingeboren wurde. Die Familie ihrer Mutter hatte sich 1938 vor den Nationalsozialisten von Köln nach Haifa retten können. In Palästina angekommen, sprach die Familie unter sich weiter Deutsch. Ihre Lieder, ihre Sprichwörter und ihre Auffassung von Ästhetik lebten am neuen Ort weiter. Eden Auerbach Ofrat erinnert sich an das Channuka-Fest in ihrer Familie als ein Hybrid aus jüdischer Tradition und weihnachtlichen Elementen.
Als Eden Auerbach Ofrat 2016 mit einem internationalen Künstlerprogramm für vier Monate nach Leipzig kam, war kurz zuvor ihre Mutter verstorben. Für die damals 37-jährige Künstlerin war das der Anlass, sich auf die Suche nach ihren kulturellen Wurzeln zu machen: „Ich wollte einen Kreis schließen. Es war wichtig, an diesem Punkt meines Lebens für mich zu sein“, erinnert sich Eden Auerbach Ofrat. Für Ihre Arbeit brauchte die Videokünstlerin einen schnellen Internetanschluss und zog deswegen nach Berlin. Anders als in Israel im Kreis der großen Familie, konnte sie sich in Deutschland in sich selbst zurückziehen. „Für mich war das eine Art Reha“, sagt Eden Auerbach Ofrat.
Der Dichtervater als Symbol des Widerstands
Michael Kovner war schon mehr als 20 Jahre älter als Eden Auerbach Ofrat, als er begann, die Lebensgeschichte seines Vaters und damit seine Herkunft künstlerisch zu erkunden. Auch für ihn war der Tod des Vaters Auslöser seiner Suche. Als Abba Kovner 1987 starb, war das ein nationales Ereignis. Ganz Israel nahm Abschied von dem bekannten Dichter, der als einer der Anführer des bewaffneten jüdischen Widerstands gegen die Nationalsozialisten im Ghetto Wilna den Idealtypus des wehrhaften Israelis verkörpert hatte. Inmitten all des öffentlich Gesagten zu dem Verstorbenen blieb Michael Kovner kein Raum für seine persönliche Erinnerung an den Vater.
Erst 20 Jahre später begann Michael Kovner, die Geschichte des Vaters zu erforschen. Sechs Jahre dauerte diese Erkundungsreise. Seine Graphic Novel „Ezekiels World“ legt davon Zeugnis ab. Auf 400 Seiten verarbeitet Michael Kovner das Leben des Vaters und verwendet dafür neuralgische Episoden wie den Ersten Golf-Krieg (1991), den israelischen Unabhängigkeitskrieg (1948) und in alptraumhaften Rückblenden auch den Widerstandskampf gegen die Nationalsozialisten. Der Held Ezekiel trägt reale und imaginierte Züge seines Vaters, in den Text und die Zeichnungen sind seine Gedichte eingewoben.
Gespräch mit dem verstorbenen Vater
„Ezekiels World“ ist einerseits ein vielschichtiger Dialog des Sohnes mit dem Vater. Die Graphic Novel greift dabei über die Grenzen der Generationen hinweg aus. Zugleich aber ist sie „ein Gespräch zwischen mir und mir selbst über das Leben, über Schuld und Verantwortung“, sagt Michael Kovner. Immer wieder geht es dabei um die Frage, ob der Sohn und der Enkel Ezekiels in Israel leben wollen und können. Eine Frage, die den 1948 in Hadera geborenen und im Kibbuz Ein Hachoresh aufgewachsenen Michael Kovner umgetrieben hat. Anfang der 1970er-Jahre ging er zum Studium nach New York, kehrte während des Yom-Kippur-Kriegs zurück nach Israel, ging wieder nach New York und kehrte wieder zurück.
Ein Mensch ohne Angst
In „Ezekiels World“ zeichnet Michael Kovner seinen Vater Abba nicht als den „großen Helden“ als den ihn die meisten Israelis sehen, sondern als „gebrochenen Helden“. Er zeigt einen komplexen Charakter: „Viele seiner Träume wurden von der gnadenlosen Wirklichkeit zerschmettert. Aber er ging ohne Angst über die schmale Brücke des Lebens.“ Diese Geschichte hat universelle Gültigkeit, davon ist der Künstler überzeugt. „Jeder kann dazu einen Zugang finden“, meint Kovner.
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