Klänge gegen den Extremismus
Das Projekt Tunisia 88 soll bei Schülern die Liebe zur Musik wecken – und sie dadurch auch vor den Fängen des Terrors bewahren.
„Musik hat die Macht, Menschen zusammen zu bringen und Terrorismus und Extremismus zu bekämpfen.“ Nesrine Mbarek kann sich noch genau an die Worte ihres früheren Schulleiters erinnern. Sie bringen auf den Punkt, was im März 2016 geschah. Für Mbareks Heimatregion Gafsa in Zentraltunesien gab es eine Reisewarnung wegen Terrorgefahr. Musiker aus unterschiedlichen Teilen Tunesiens ließen sich jedoch nicht davon abhalten, zu einem Konzert zu kommen, das für diesen Tag geplant war. Und so saßen die Schüler in der Sporthalle zusammen und lauschten klassischer Musik, Jazz und tunesischen Volksliedern.
Gafsa war einer der Konzertstandorte des Projekts Tunisia 88. Die Ziffer 88 steht für die Zahl der Tasten eines Klaviers. Und sie beschreibt eines der Ziele der Organisatoren: die Anzahl der Konzerte, die die Macher in allen Teilen des Landes bis Mitte 2019 organisieren wollen. Sie finden in Privathäusern und öffentlichen Gebäuden wie Theatern statt. Die meisten Auftritte sind aber in Schulen vorgesehen. Denn mit dem Projekt wollen die Initiatoren junge Menschen erreichen. „Musik ist für uns das ideale Vehikel, um gesunde Neugierde, die Wertschätzung von Vielfalt und den Respekt gegenüber dem Anderen und dem Fremdartigen zu lehren, vorzuleben und einzuüben“, sagt Ulrich Brunnhuber.
Einblick in andere Kulturen
Der deutsche Hobbymusiker hat Tunisia 88 zusammen mit dem US-amerikanischen Pianisten Kimball Gallagher und dem tunesischen Unternehmer Radhi Meddeb ins Leben gerufen und die ersten Konzerte finanziert. Sie wollen damit Kindern einen Einblick in andere Kulturen ermöglichen. „Und wir möchten sie dadurch auch davon abhalten, sich zu radikalisieren“, erzählt Kimball Gallagher, dessen „88 Concert Tour“ durch die ganze Welt die Grundidee für das Projekt in Tunesien lieferte.
Die Lust, ihre Energie in die Musik zu stecken, wecken die Macher von Tunisia 88 zunächst durch die Konzerte. Hier treten nicht nur Profimusiker wie Gallagher sowie unterschiedliche tunesische Künstler auf. Auch junge Musiker aus der Region, deren Schulabschluss nicht lange zurückliegt, stehen auf der Bühne. „Damit wollen wir den Kindern zeigen: Musik ist nicht nur etwas für Profis, sondern für jedermann“, sagt Ulrich Brunnhuber. Er leitet hauptberuflich das Büro der Europäischen Investitionsbank in Tunis, die das Projekt mittlerweile finanziell unterstützt. Bei den Konzerten ist der Deutsche aber einfach Ulrich und spielt Saxophon – was manche Kinder verwundert. „Einige haben vorher noch nie ein Saxophon oder Cello gesehen“, erzählt er.
Die Konzerte sind bei Tunisia 88 aber nur der Auftakt. Ziel ist es vor allem, neue musikalische Strukturen aufzubauen. Die Schüler können deshalb am Ende jeder Veranstaltung ihren eigenen Musikklub gründen. Einmal die Woche treffen sie sich und machen einfach das, worauf sie Lust haben: Sie singen, komponieren oder spielen gemeinsam auf ihren Instrumenten. Musiklehrer der Schule oder Musiker von außerhalb begleiten sie dabei. 18 Klubs sind mittlerweile entstanden; nicht vorwiegend in größeren Städten, sondern insbesondere auch im Hinterland Tunesiens.
Eines der Klubmitglieder ist Ghofrane Bouzaiene. Sie beherrsche zwar kein Instrument, erzählt die 18-Jährige, aber das sei auch nicht so wichtig. „Das ist das, was Tunisia 88 so besonders macht: Es bringt junge Leute dazu, die Musik zu lieben und einfach mitzumachen.“ In ihrem Klub komponieren sie beispielsweise neue Lieder. Bouzaiene schreibt Texte, andere Mitglieder entwickeln dann mit ihr eine Melodie, sodass ein neues Lied entsteht.
Konzert im Waisenhaus
Mit ihrer Musik bleiben die Schüler nicht unter sich. Tunisia 88 ermutigt sie, sich mit ihrem Gesang oder einstudierten Liedern auch in der Gemeinde einzubringen. Bouzaiene und ihre Mitschüler werden beispielsweise an ihrem „Klub-Geburtstag“ in einem Waisenhaus ein Konzert geben. Auch ein Auftritt in einem Krankenhaus ist geplant. „Das wird uns als Gruppe sehr stolz und glücklich machen.“
Das Musikprojekt bereichert den Alltag der Jugendlichen. Denn in vielen Orten gibt es nur wenige Freizeitangebote. Erst nach der arabischen Revolution hätten einige Organisationen angefangen, außerschulische Aktivitäten anzubieten, berichtet Bouzaiene. „Wir brauchen diese Projekte sehr“, betont sie. Zudem gebe Tunisia 88 gerade jungen Frauen in konservativeren Gegenden neue Freiräume, erzählt Nesrine Mbarek. „Es gibt ihnen die Möglichkeit, aktiver zu sein“, sagt sie mit Blick auf diejenigen, deren Eltern ihre Töchter grundsätzlich lieber zu Hause sehen würden. Bei Tunisia 88 wüssten die Eltern aber, dass sie sich in der Schule in einem sicheren Umfeld aufhalten. Die Partnerschaft mit dem tunesischen Bildungsministeriums schaffe zusätzliches Vertrauen.
Dank der Glaubwürdigkeit, die sich das Projekt erworben hat, lassen die Eltern ihre Kinder auch an größeren Veranstaltungen teilnehmen – und dafür auf lange Reisen gehen. So wie im Juli 2017 nach Tunis. Mehrere Hundert Kilometer legten die Mitglieder von Musikklubs aus unterschiedlichen Landesteilen zurück, um in die Hauptstadt zu gelangen. Dort traten sie als Chor gemeinsam mit einem Orchester aus Taipeh auf. Für die 18-jährige Bouzaiene war es ein Erlebnis, das sie bis heute nicht loslässt – und das ihr zeigt, was Tunisia 88 bewirken kann. Für sie sei das Projekt „wie Magie“, sagt sie. „Es macht alles möglich.