Immer wieder sonntags . . .
Warum in Deutschland beim „Tatort“ alle zu einer großen Familie werden.
Sollten Außerirdische jemals vorhaben, Deutschland zu kapern, müsste man ihnen den Sonntagabend als perfekten Zeitpunkt empfehlen. Denn zwischen 20:15 und 21:45 Uhr schauen die Deutschen nicht raus, sondern „Tatort“. Das ist so seit dem 29. November 1970, als die erste Folge der erfolgreichsten und langlebigsten Krimiserie des deutschsprachigen Raumes anlief. Sie hieß „Taxi nach Leipzig“. Der Fall: Auf einem Interzonenparkplatz der DDR wird ein toter Junge in Westkleidung gefunden. Bald wird über die innerdeutsche Grenze hinaus von West nach Ost ermittelt. Erfolgreich natürlich. Wie auch dieser fulminante „Tatort“-Start. Die Serie wurde so beliebt, dass bis heute 900 Folgen gedreht wurden und diese tiefe Sehnsucht, sich am Sonntag vor den Fernseher zu setzen, mittlerweile sogar irgendwo in der deutschen DNA abgelegt sein muss. Vermutlich gleich neben der Mülltrennung und der Bundesliga.
Weshalb die Deutschen dem „Tatort“ so treu verbunden sind, erklärt sich weniger durch die Brillanz der Drehbücher oder der Regie – die gibt es auch –, sondern eher durch die geniale Mischung aus Vertrautem und Überraschendem. Wobei Ersteres – wir sind in Deutschland, der Homebase des Sicherheitsdenkens – stets klug ein wenig höher dosiert wird. So war der „Tatort“ von Anfang an immer auch ein Buchstabierwettbewerb von „Heimat“, ein Abbild der förderalen Ordnung des Landes. Jeder Sender im Verbund der ARD, das heißt so ziemlich jedes Bundesland, liefert seine eigenen Ermittler, seine eigenen Tatorte, sein unverwechselbares Lokalkolorit. Zudem begleiten manche Kommissare einen schon länger durchs Leben als der Ehepartner. Wie das Ermittlerteam Lena Odenthal und Mario Kopper, mit 25 Jahren Tatort-Dienst in Ludwigshafen das langlebigste Duo.
Bekanntes liefern immer auch die Fälle. Alles, was den deutschen Alltag bewegt und bewegte, kam und kommt im „Tatort“ vor: Wiedervereinigung, Terrorismus, Organhandel, Globalisierung, Rassismus, Drogen, Umweltskandale, Kindesmissbrauch, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskriminalität, die Probleme mit der Altenpflege ebenso wie die mit der Partnersuche. Anders als im wirklichen Leben löst der „Tatort“ vielleicht nicht die gesellschaftlichen Widersprüche, aber – meist – den Mordfall und man geht wenigstens am Sonntag einmal beruhigt ins Bett. „Tatort“ sei, so der Literaturwissenschaftler Jochen Vogel, eigentlich der „wahre Gesellschaftsroman der Bundesrepublik“.
Wie er einem gefiel, das wird dann am Montag im Büro besprochen. Noch ein Grund für die „Tatort“-Mania: Die Serie liefert zuverlässig Themen, über die sich alle austauschen können. Auch während der Ausstrahlung. „Tatort“-Fans treffen sich inzwischen in Kneipen und sogar Kinosälen zum gemeinsamen Gucken. Und damit man beim Mitfiebern auch allein daheim Gesellschaft hat, hat sich längst der „Second Screen“ via Facebook und Twitter als Plattform für Live-Kommentare etabliert. Es ist fast so, als würden alle in ein und demselben Wohnzimmer sitzen. Eine große Familie vereint vor einem Fernseher. So besitzt der „Tatort“ auch emotionalen Nährwert. Auch und gerade wenn man sich einmal wieder über absurde Plots aufregt oder darüber, dass der verdiente Ermittler ausgetauscht wird. Nur Reibung erzeugt schließlich Wärme. Auch deshalb ist ein Deutschland ohne „Tatort“ so undenkbar wie eines ohne Oktoberfest oder Schloss Neuschwanstein. Und weil auch in Deutschland alle Streitlust Ewigkeit will, wird man sich natürlich auch nächsten Sonntag wieder einen „Tatort“ anschauen. Sollte Ihnen sonntags in Deutschland mal ein Alien über den Weg laufen, behalten Sie das aber lieber für sich. ▪
CONSTANZE KLEIS ist Journalistin, Kolumnistin und erfolgreiche Buchautorin. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.