Was bedeutet Heimat?
Deutsche und israelische Jugendliche erzählen über ihre Erfahrung mit den Begriffen Heimat und Zuhause – in Kurzfilmen. Ein Projekt in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Filminstitut.
Karina steht vor einer grasgrünen Wand und soll wütend werden. Ihr Team dreht die Szene in den Räumen des Deutschen Filmmuseums nach, weil der Ton beim ersten Versuch nicht gut genug war. Doch jetzt ist sie peinlich berührt vor den vielen um sie herum stehenden Menschen. Alle mögen den Raum verlassen, bittet sie. Wenige Minuten später kann man sie durch die geschlossene Tür brüllen hören. Die Szene für den Film „The Sound of Home“ ist schnell im Kasten.
Es läuft gut bei den vier Gruppen, die sich zum binationalen Filmprojekt für eine Woche in Frankfurt am Main zusammengefunden haben. 26 Jugendliche aus Israel und von der Frankfurter Max-Beckmann-Schule bekamen eine Woche Zeit, um Kurzfilme zum Thema „My Home is...“ zu drehen. Dazu gehören die Entwicklung einer Idee, die Arbeitsverteilung, die Filmaufnahmen, der Schnitt und die Vertonung – eine Woche ist dafür knapp bemessen. Deshalb sitzen die 16- und 17-Jährigen an diesem Freitag hochkonzentriert vor Laptops, schneiden Buchstaben für den Abspann aus oder spielen Gitarre. Ein Dokumentarfilm und drei Spielfilme müssen rechtzeitig zur Abschlusspräsentation am Sonntag fertig sein.
Einer von ihnen heißt „Save Home“ und handelt von einem Teenager, dessen Eltern sich trennen. Alice ist gerade mit dem Schnitt beschäftigt. „Es geht uns um das private Zuhause, die Familie“, erklärt sie. „Die Eltern sagen der Hauptfigur, er muss sich entscheiden, bei wem er leben will – aber das möchte er gar nicht.“ Hauptdarsteller Omer blickt über ihre Schulter. Die Jugendlichen sprechen untereinander Englisch, damit jeder im Team alles verstehen kann. Das ist wichtig für die binationalen Gruppen, die schnell zusammengewachsen sind. „Es war gar kein Problem, die Aufgaben zu verteilen“, sagt Alice. „Und auch mit dem Thema waren wir uns schnell einig.“
Wie rasch die Jugendlichen zusammenwachsen, erstaunt die Projektverantwortlichen immer wieder. Niemand spricht perfekt englisch, aber es reicht zur Kommunikation untereinander. Die Frankfurter Jugendlichen, unter ihnen viele aus Migrantenfamilien, sind über die Israel-AG des Max-Beckmann-Gymnasiums zum Projekt gekommen, bringen daher alle ein Interesse an ihren neuen israelischen Bekannten mit. Diese leben in Ayanoth, einem der etwa 125 Jugenddörfer des größten jüdischen Hilfswerks Kinder- und Jugend-Aliyah. Etwa ein Drittel der 15.000 unter dieser Betreuung stehenden Kinder kommt aus Äthiopien, ein weiteres Drittel kommt aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, wobei ein großer Teil ohne Eltern nach Israel eingewandert oder verwaist ist. Ein weiteres Drittel sind in Israel geborene Kinder, die aus milieugeschädigten Familien stammen oder Waisenkinder sind. In den Jugenddörfern finden sie ein neues Zuhause und erhalten eine Berufsausbildung. Das von der Jugend-Aliyah initiierte und mit Förderung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien umgesetzte Projekt mit dem Deutschen Filminstitut bietet ihnen einen Einblick in eine Branche, die sonst oft schwer zugänglich wirkt. 2013 fand die gemeinsame Filmwoche erstmals statt – wenn sie weiterhin gefördert wird, soll es sie auch 2015 geben.
Den Großteil der benötigten Technik hat das Filmmuseum eigens angemietet. Um die Jugendlichen zu unterstützen, stehen ein Regisseur, ein Filmlehrer und die Filmpädagogin Alia Pagin bereit. Sie sitzt im Arbeitsraum der Gruppe „One of Many“, die sich ein ungewöhnliches Konzept überlegt hat. „Das sind richtige Künstler“, lobt sie. Zur nacherzählten Geschichte zweier Flüchtlinge nahmen die Jugendlichen Standbilder auf, die nun auf einen Jungen im Kapuzenpullover projiziert werden. Er steht für alle Flüchtlinge, die solche Erfahrungen gemacht hatten. Die Interviewten, ein Mädchen aus Eritrea und ein Junge aus dem Iran, wollten ihre Namen und Gesichter nicht öffentlich zeigen. Daher sprach Omer den Text, in dem beide Geschichten verbunden wurden. „Was ihnen passiert ist, passiert täglich“, erzählt Brano, der die Kamera geführt hat. „Wir haben Flüchtlinge in der Gruppe, und die Geschichten gleichen einander. Deshalb war es ganz logisch, nur eine Stimme sprechen zu lassen.“
Mit dem Thema Fremdheit am Wohnort befasst sich auch die Gruppe, deren Film „Stuck and Go“ heißt. Eine Halb-Iranerin erzählt darin, wie es für sie ist, streng erzogen aufzuwachsen in einem Umfeld, in dem die Freundinnen alles zu dürfen scheinen und sie sich nicht recht zugehörig fühlt. An einer Bushaltestelle begegnen zwei Mädchen mit dieser Erfahrung einander und tauschen sich aus. Um diese Szene zu drehen, sind die Jugendlichen gerade unterwegs.
Zwei Tage später. Im Kino des Deutschen Filmmuseums präsentieren die etwas erschöpft aussehenden Jugendlichen ihre Kurzfilme. Alle sind rechtzeitig fertig geworden; der Stolz ist groß. Auch der Vertreter der Stadt Frankfurt, Kämmerer Uwe Becker, ist beeindruckt. „Wenn man sieht, wie innig und einträchtig hier israelische und deutsche Jugendliche zusammengearbeitet, wie sie gemeinsam etwas Sehenswertes geschaffen und dabei wichtige Freundschaften geschlossen haben, dann hat sich das Projekt schon gelohnt“, sagt er. „Umso erfreulicher ist es, dass in der Zusammenarbeit vier großartige Filme entstanden sind.“ Auch David Cohen-Levy vom israelischen Bildungsministerium freut sich über den guten Kontakt: „Wenn Jugendliche aus Israel und Deutschland heute so aufeinander zugehen können, fühle ich mich sicher, was die Zukunft unserer Länder angeht.“ Nur ungern verabschieden sich die Jugendlichen später voneinander. In Zeiten, da der Kontakt über das Internet aber ganz leicht zu halten ist, werden ihre Freundschaften bestimmt noch lange Bestand haben.
Die Videos sind zu sehen unter: deutsches-filminstitut.de/filmmuseum/museumspaedagogik/aliyah