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Eine besondere 
Beziehung

Der berühmteste chinesische Künstler Ai Weiwei ist direkt, nachdem er seinen Pass zurückerhalten hatte, nach Deutschland gereist. Warum?

Jörg-M. Rudolph, 02.10.2015

Wohl noch nie ist ein bildender Künstler, der nach Deutschland kam, mit so viel öffentlicher Aufmerksamkeit empfangen worden wie der Chinese Ai Weiwei Anfang August 2015. Seine Abreise aus China wie seine Ankunft in Deutschland waren Thema für alle Medien. Tageszeitungen und Illustrierte, Radio- und Fernsehsender brachten Interviews, Blogger auf der ganzen Welt füllten ihre Seiten und Tweets verfolgten ihn auf Schritt und Tritt. Warum? Das mag an seiner Vita liegen, an seiner Kunst, vor allem aber wohl an seiner besonderen Beziehung zu Deutschland.

Ai Weiwei hätte auch in die USA reisen können, wo er lange lebte, oder nach London, wo eine große Ausstellung vorbereitet wurde. Aber er flog nach Deutschland. Das war schon klar, als er Mitte Juli seinen Pass zurückerhalten und prompt bei Instagram gepostet hatte. Erst München, dann Berlin waren seine Stationen. Am Münchner Flughafen begrüßten ihn sein Sohn Ai Lao und seine Partnerin Wang Fen, die seit einiger Zeit in Berlin leben. Dann ging es in die Klinik, in der Ärzte ihm 2009 mit einer Operation am Gehirn das Leben gerettet hatten. Und nach einem positiven Gesundheitscheck in die Stadt, die Parks, an die Isar, an die frische Luft.

In Berlin wurde Ai Weiwei vom Regierenden Bürgermeister empfangen. Danach besuchte er, seit 2011 Mitglied der Akademie der Künste Berlin, die Universität der Künste Berlin (UdK). Seit vier Jahren liegt das Angebot einer Gastprofessur vor. Die Universitätsleitung und der Künstler wurden sich schnell einig: Wohl schon im Herbst 2015 wird er dort lehren. Das eigentliche Zentrum seiner Arbeit aber wird sein Atelier – das größte außerhalb Pekings – im Szene-Bezirk Prenzlauer Berg sein, das er schon vor sechs Jahren hatte einrichten lassen, aber bis vor Kurzem nie betreten hatte. Dort stapeln sich die 6000 simplen Holzhocker, die in seiner weltweit größten Einzelschau „Evidence“ 2014 im Berliner Gropius Bau eine zentrale Rolle spielten.

Wie stets bei Ai Weiwei-Projekten ging es ihm auch hier nicht um die Präsentation von Objekten, die als solche, als Einzelstücke, Kunstwerke darstellen, sondern darum, mit Hilfe einer optisch ansprechenden Präsentation von Gegenständen des Alltags den Blick des Besuchers auf konkrete Themen der aktuellen chinesischen Gesellschaft zu lenken und dabei aufzuzeigen, wie deren Moderne von Traditionen tief durchdrungen wird. Ai Weiwei sieht darin ein Hindernis für die Modernisierung der sozialen Beziehungen in China. Mit seiner Kunst versucht er Einfluss auf die Gegenwart zu nehmen. Deshalb inszeniert er seine Ausstellungen gerne als Spektakel oder mischt sich mit unzähligen Tweets, Blog-Kommentaren, Fotos und Selfies zu jeder Tages- und Nachtzeit thematisch in den Ausstellungsverlauf ein.

Bislang noch nicht war Ai Weiwei an der Stätte seines größten Erfolgs. Auf der Documenta 2007 in Kassel wurde er mit drei Parallel-Projekten zum Weltstar. Er habe die Weltausstellung der Kunst für sich „gestohlen“, bemerkte die Nachrichtenagentur Bloomberg damals treffend. Danach führte ihn sein Weg in die Tate Gallery of Modern Art und Royal Academy of Art in London, ins Museum of Modern Art in New York und andere große Museen der Welt. Allerdings hat Ai Weiwei im Juli noch aus China fünf exklusiv gefertigte Kunstwerke nach Kassel geschickt. Sie sind nun in der neuen Grimmwelt, einem Ausstellungshaus zu Ehren der Märchensammler, zu sehen. ▪