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Was für eine Nacht!

Geflüchtete, die durch Museen führen, und ein Künstler, der auf dem Dach des Auswärtigen Amts aus Spülschwämmen Kunst fertigt: Die Lange Nacht der Ideen bot ungewöhnliche Einblicke.

H. Bensch, S. Kanning, F. Steyer, 15.05.2017
© Sarah Kanning - Long Night of Ideas

Lange Schlangen vor dem Auswärtigen Amt, tosender Applaus im WissenschaftsForum am Gendarmenmarkt und eine hitzige Diskussion im künftigen Humboldt Forum im Berliner Schloss: Die Lange Nacht der Ideen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik lud die Besucher mit 17 guten Ideen an 17 Orte in der ganzen Stadt. „Das ,Innen’ ist ohne das ,Außen’ nicht mehr zu verstehen – daher brauchen wir die Lange Nacht der Ideen“, sagte Andreas Görgen, Leiter der Kultur- und Kommunikationsabteilung im Auswärtigen Amt, und spielte damit auf das große Engagement etwa von deutschen Mittlerorganisationen, Stiftungen und Organisation im Ausland an, die in der Nacht ihre Projekte vorstellten. Viele der Veranstaltungsräume, wie das Dach des Auswärtigen Amts, das Humboldt Forum oder die temporäre Schinkelsche Bauakademie haben extra für dieses Ereignis ihre Türen geöffnet. Das Team von deutschland.de hat sich in der Nacht umgesehen. 

Politik und Kultur Hand in Hand – Humboldt Forum 

„Wird Kultur überschätzt?“, fragte Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur der Tageszeitung „Tagesspiegel“ in der Diskussion „Die neue Unordnung – was Politik und Kultur leisten müssen“. „Die Frage ist vielmehr: Sind nicht unsere Anforderungen an Kultur überschätzt?“, parierte die deutsch-französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy auf der Baustelle des künftigen Humboldt Forums im Berliner Schloss. „Kultur ist schließlich nicht etwas, das es gibt, sondern etwas, das wir gemeinsam tun.“ Martin Roth, designierter Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa), plädierte dafür, die Politik nicht allein zu lassen oder jegliche Verantwortung an sie abzugeben. „Wir müssen uns fragen, ob wir gemeinsam genug tun.“ Carolin Emcke, Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, forderte dazu auf, Begriffe wie Gleichheit, Solidarität und Menschenwürde wieder in Geschichten, Erzählungen und Bilder zu übersetzen. In eine Sprache, die jeder verstehen kann.

Unter dem Sand der Geschichte – ifa-Galerie

Bunte, spitze Holzpflöcke scheinen sich durch die Wand in alle Richtungen zu bohren. Über den Besuchern schwebt Stacheldraht an der Decke. So wie die Holzstücke in den Raum der ifa-Galerie hineinragen, so haben sich nach Ansicht des Künstlers Pascale Marthine Tayou koloniale Elemente in die Gesellschaft gebohrt und sind geblieben: in Form von Erinnerungen, Denkweisen, Wissen. Seine Skulptur spielt auf die Stadt Kolmanskop an, eine ehemalige deutsche Kolonie in Namibia. Heute ist Kolmanskop nur noch eine Geisterstadt und liegt unter dem Sand der Namib-Wüste begraben.

Du bist Faust! – Goethe-Institut

Das Licht ist schummrig im Goethe-Institut in Berlin. Menschen wandern an Aufstellern mit Zitaten aus Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ vorbei. Vorher mussten sie sechs Werte festlegen, die ihnen persönliche besonders wichtig sind. Jetzt gilt es, die Zitate zu finden, die zu ihren Werten passen: etwa zu Liebe, Freiheit oder Familie. Wer eines der Zitate kaufen will, braucht dafür Geld – und muss dafür Freunde aus seiner Smartphone-Telefonliste an die „Bank of Mephisto“ verkaufen. Wer geht wohl den Pakt mit dem Teufel ein? „Being Faust – Enter Mephisto“ ist ein interaktives Spiel, bei dem die Besucher in die Rolle des jungen Fausts schlüpfen. Ein großer Spaß, bei dem man Goethes Werk auf ganz neue Weise für sich entdeckt. Die Idee dafür hatte das Goethe-Institut Korea in Zusammenarbeit mit der Spielefirma Nolgong und dem Dramaturgen Benjamin von Blomberg.

Von Algen, Bakterien und unbekannten Planeten – WissenschaftsForum

Welche Atmosphäre herrscht auf dem Planet Merkur? Warum müffelt altes Wasser? Antworten geben die Science-Slammer im Wissenschaftsforum. Zehn Minuten haben sie Zeit, kurzweilige Einblicke in ihre Forschungen zu geben. „Ich erforsche Algen, das ist gut, denn die sterben nicht so schnell aus wie Wale oder Delphine“, sagt Meeresbiologin Julia. Am Ende steht sie im Finale mit Doktorandin Indhu vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), die im Labor die Umgebung des Merkurs nachzubilden versucht. Die Entscheidung ist auch ein Signal für die Bedeutung von Kooperationen in der Wissenschaft: beide werden Erste.

Macht und Täuschung – temporäre Schinkelsche Bauakademie

Warum fühlten sich Besucher bei einer Kaiseraudienz in Castel Gandolfo einst klein und unbedeutend? Das lag an einer optischen Täuschung durch größer werdende Muster an den Wänden des Arkadengangs vor der Kaisertreppe. Wie sich das anfühlte, erfahren Besucher in der temporären Schinkelschen Bauakademie mit Hilfe der Technik virtueller Realität. Doch sie haben Glück: Daniel Wickeroth vom Rechenzentrum der Uni Köln, der das Projekt mitentwickelt hat, gewährt ihnen Einblicke, die die Bürger im Römischen Reich nicht hatten: Sie dürfen auf der Kaisertreppe nach oben klettern und von dort auf die anderen hinabsehen. „Wir wollen die Facetten von Archäologie heute zeigen und klar machen, dass wir weder verstaubt sind, noch Indiana-Jones-Techniken anwenden“, sagt Friederike Fless, Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts. „Wir erforschen, wir zeichnen, wir entwickeln 3D-Modelle, wir erstellen Register und wir teilen unsere Fähigkeiten und unser Wissen mit denen, die es eines Tages brauchen, sei es Sudan oder Syrien.“ Digitalisierungsprojekte wie das Syrian Heritage Archive Project sollen heute bewahren, was morgen vielleicht zerstört sein könnte.

Grenzenlose Kreativität – Games Science Center

Ein Touchscreen-Spiel, bei dem zehn Leute gleichzeitig agieren können; ein Fußball-Computerspiel, bei dem die Sportler gegen einen richtigen Fußball treten müssen, um den Ball über den Bildschirm tanzen zu lassen. Sehr ungewöhnliche Computerspiele im Berliner Game Science Center – mit einem internationalen Hintergrund. Nominierte und Gewinner des Deutschen Computerspielpreises sind auf Einladung der Goethe-Institute Indonesien und Brasilien in eines der beiden Länder gereist. Mit Entwicklern in den Ländern haben sie gemeinsam an Spielen gearbeitet, die sie in der Langen Nacht der Ideen vorstellen.

Über den Dächern der Stadt – Auswärtiges Amt 

In luftiger Höhe auf dem Dach des Auswärtigen Amtes: Hier hat vor kurzem der deutsch-libanesische Künstler Said Baalbaki das Studio des AArtist in Residence-Programms bezogen. Er arbeitet an seinem Projekt „Cookwar(e) 101“. Dabei verwandelt er Küchenutensilien in militärische Objekte: Espresso-Dosen werden zum Schutzhandschuh einer Ritterrüstung, Spülschwämme zum Kettenhemd. „Ich bin im Bürgerkrieg aufgewachsen. Jetzt baue ich aus alltäglichen Gegenständen Dinge, die wie ein Schutzschild wirken sollen“, sagt Baalbaki. Vor dem Auswärtigen Amt warten Besucher in langen Schlangen, um Baalbaki auf dem Dach einen Besuch abzustatten und bei einem Getränk den Ausblick über Berlin zu genießen. 

Aktualität der Steine – DAADGalerie

Erinnerungen, Zeitgeschichte und politische Konflikte verbindet der libanesische Künstler Rayyane Tabet in seinen Arbeiten. Als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD hat er 500 Frottagen, also Kohleabdrücke, von Fragmenten von Statuen angefertigt – Besucher der Langen Nacht der Ideen können sie in der neuen DAADGalerie in Kreuzberg entdecken. Die Steinstücke gehören zu einst spektakulären archäologischen Funden aus Syrien, die 1943 bei einem Luftangriff auf Berlin zerstört wurden. Tabets Urgroßvater hatte den Archäologen und Bankier Max Freiherr von Oppenheim in den 1920er-Jahren bei Grabungen in Nordsyrien unterstützt. Bittere Ironie: Jener bislang gut erhaltene Teil der Funde von Oppenheims, der im Nationalmuseum in Aleppo lagerte, ist bei einem Angriff im Juli 2016 schwer beschädigt worden.

Georgische Weisheiten – Kulturhaus Dussmann

„Was du verschenkst, hast du gewonnen. Was du versteckst, hast du verloren.“ Eine sehr schönes Sprichwort, das Professor Alexander Kartosia vorträgt. Der frühere Direktor der georgischen Nationalbibliothek ist auf Einladung der Frankfurter Buchmesse im Kulturkaufhaus Dussmann und spricht über die Geschichte und Schönheit der Sprache. Georgien ist 2018 Gastland der Frankfurter Buchmesse. Der Abend bei Dussmann läuft unter dem Titel „Übersetzen als Kulturvermittlung“. Die vielen Leute, die vor der Bühne in der ersten Etage des Kulturkaufhauses sitzen, erleben, wie sich ein Text verändert, der mehrfach übersetzt wird: erst vom Deutschen ins Französische, dann ins Georgische, Norwegische, Englische und zuletzt wieder ins Deutsche. Ein sehr interessantes Sprachexperiment!

Interaktives Spiel zum interkulturellen Austausch – Alte Kantine

In einem bunten Zelt in der Alten Kantine in Wedding sitzen Menschen, die für ihr Team bilaterale Gespräche führen. Der Grund: Heute Abend wird gespielt. Die Spielentwicklerin Christiane Hütter will durch das Experiment zeigen, wie wichtig Auslandserfahrung ist. Renata Kopřivová ist Teamassistentin bei „kulturweit“, dem internationalen Freiwilligendienst der Deutschen UNESCO-Kommission, der die Veranstaltung organisiert. „Mit diesem Spiel lernt man, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen – und das ist auch das Ziel von kulturweit“, erklärt sie. An diesem Abend lassen sich viele Teilnehmer darauf ein zu entscheiden, welche Sätze in die Weltgeschichte eingehen sollten.

Geflüchtete verknüpfen Geschichte mit Gegenwart – Vorderasiatisches Museum

Stiere, Löwen, Ungeheuer mit Schlangenkopf: Blau glänzende, glasierte Ziegel mit diesen Tieren zieren das Ischtar-Tor, eines der Stadttore des früheren Babylons, im Vorderasiatischen Museum. Was es mit dem Tor und den anderen archäologischen Gegenständen im Museum auf sich hat, erzählen Menschen, die in Vorderasien aufgewachsen sind: die Guides von Multaka. Bei dem Projekt führen Geflüchtete aus Irak und Syrien normalerweise andere arabischsprachige Geflüchtete durch das Pergamon-Museum. In der Langen Nacht der Ideen bringen sie den Besuchern auf Deutsch und Englisch die Kunstgegenstände näher und verknüpfen Geschichte mit aktuellen Geschehnissen in ihrer Heimatregion.

Flucht und Kunst – Atrium der Reinhardtstraßenhöfe

Wie fühlt es sich an, ganz allein nach Deutschland zu kommen? Der 16 Jahre alte Ghani Ataei aus Afghanistan erzählt es in packenden Versen. Bei dem in Berlin gegründeten Poetry Project berichten geflüchtete Schüler in berührenden Gedichten von ihren Fluchterfahrungen. Bei der Veranstaltung der Zentralstelle für Auslandsschulwesen in Zusammenarbeit mit dem Haus der Kulturen der Welt und dem Poetry Project können Besucher auch Kurzfilme und Soundinstallationen entdecken, die Schüler aus Willkommens- und Regelschulklassen und von Europa-Schulen in Berlin produziert haben. 

Mit Fußball die Welt verändern – adidas BASE in Berlin-Wedding

Fußball führt nicht nur bei Weltmeisterschaften die Menschen zusammen. Der Sport kann auch im Alltag für Frieden sorgen, davon sind die Organisatoren der Initiative Streetfootballworld überzeugt. In drei statt zwei Halbzeiten, ohne Schiedsrichter und mit Zusatzpunkten für Fairplay, lernen die Teilnehmer selbständig und selbstbewusst zu sein. Heang Ly ist Fußballcoach aus Kambodscha. Er arbeitet dort für die SALT Academy, eine von vielen Nichtregierungsorganisationen, mit denen Streetfootballworld kooperiert. „Ich bin überzeugt, dass Fußball Leben verändern kann. In Phnom Penh versuchen wir, mit unseren Aktionen Korruption und Klischees zu bekämpfen. In Kambodscha denken viele, dass Fußball nichts für Mädchen ist. Wir stellen aber jeden Tag fest, dass Mädchen auch gerne mit uns spielen.“

Performances und Musik zur Dekanonisierung – SAVVY Contemporary

Vor wenigen Jahren ist im Berliner Stadtteil Wedding ein ehemaliges Krematorium zu einem Kulturquartier umgewandelt worden. In der Galerie SAVVY Contemporary diskutieren Interessierte in der Langen Nacht der Ideen über „Dekanonisierung als Methode”. Musik, Vorträge, Performances, Lesungen, Diskussionen und Filmvorführungen sollen hierarchische Strukturen, die Kanons produzieren, demontieren. Die Band The Swag, die sich als „die beste Hip Hop Band Berlins“ vorstellt, bringt danach im Konzertsaal alle Besucher bis in die frühen Morgenstunden auf die Tanzfläche. 

Afrikanische Party – Spreewerkstätten/Alte Münze

Wenn die südafrikanische Band BCUC erst mal loslegt, gibt es kein Halten mehr. Harte Percussions, mitreißende Klänge und starke Botschaften für eine bessere Welt zeichnen die sieben Musiker aus Soweto aus. „Für eine bessere Zukunft müssen wir alle etwas tun“, sagt Bandleader Jovi Nkosi. BCUC sind Teil der Netzwerk-Plattform „Music in Africa“, die von der Siemens-Stiftung, dem Goethe-Institut und dem Auswärtigen Amt gefördert wird. Die Besucher tanzen begeistert, die Musiker spielen und schwitzen. Am Ende strahlen alle glücklich. Was für eine Nacht!  

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