Das Fenster zur Welt erhalten
Wie wichtig ist Kultur in der Corona-Krise? Intendantin Shermin Langhoff berichtet, wie das Gorki-Theater das Publikum ganz neu erreicht.
Seit 2013 ist Shermin Langhoff Intendantin des Maxim Gorki Theaters in Berlin, das 2014 und 2016 zum deutschsprachigen „Theater des Jahres“ gewählt wurde. Das Theater zeichnet sich vor allem durch seine gesellschaftskritischen Inszenierungen aus. Langhoff, einzige Frau an der Spitze eines großen Theaters in Berlin, erhielt zahlreiche Auszeichnungen für ihr kulturelles Engagement, darunter 2017 das Bundesverdienstkreuz.
Frau Langhoff, wie hat sich Ihr Leben durch die Pandemie verändert?
Wir befinden uns, wie die gesamte Gesellschaft, seit fast einem Jahr im Ausnahmezustand. Für Theater, das vor allem durch die Zusammenkunft von Menschen lebt, ist das eine große Herausforderung. Als Staatstheater ist das Gorki natürlich in einer komfortableren Position als freie Theater und Kultureinrichtungen. Trotzdem mussten auch wir uns auf die neue Situation einstellen.
Wir haben die Krise ohne Naivität auch als Chance gesehen, um unsere bisherigen Konzepte zu überdenken. Warum machen wir Theater? Was erzählen wir? Wie erzählen wir es? Und vor allem für wen? Wie können wir weiterhin einen internationalen Austausch fördern und ein Fenster zur Welt für unser Publikum sein? Wir haben unsere eigene Relevanz für die Gesellschaft überprüft und versucht eine neue Ansprache zu finden, die wir in Krisenzeiten brauchen.
Wie sieht die Umsetzung der Ideen aus?Wir haben Formate für das Internet entwickelt, in denen wir nicht nur das Theater aufzeichnen, sondern ein filmisches Erlebnis schaffen. Immer mittwochs und freitags streamen wir für jeweils 24 Stunden eine neue Produktion mit englischen Untertiteln. Zuletzt eine Uraufführung der Autorin Sibylle Berg, in der neben unseren auch aus dem Fernsehen bekannte Schauspielerinnen Anastasia Gubareva, Svenja Liesau und Vidina Popov die prominente Kollegin Katja Riemann mitwirkte.
An der Berliner Museumsinsel steht außerdem ein Glaskubus, unser „Gorki Kiosk“, in dem wir auch in der Hochphase der Pandemie für Passanten Vorstellungen unter anderem von der polnischen Regisseurin Marta Gornicka geben konnten.
Darüber hinaus konzentrieren wir uns in der Reihe Berliner Herbstsalon wieder mehr auf unsere Ausstellungen, die wir seit 2013 regelmäßig veranstalten. Dafür arbeiten wir auch mit internationalen Künstlerinnen und Künstlern zusammen, zum Beispiel aus der Türkei. Ende Februar eröffnen wir virtuell und analog eine Ausstellung, in der neben Zehra Dogan und ihren Werken der Journalist Can Dündar seine Gefängniszelle nachgebaut hat. Darin erzählt er die Geschichten von Protagonisten wie Osman Kavala, die in der Türkei im Gefängnis sitzen, und zeigt, wie ihre Ideen und ihre Kreativität auch außerhalb der Gefängnismauern weiterleben.
Mit unserem Publikum bleiben wir auch über unseren Newsletter in Kontakt. Wir haben über 40.000 Abonnenten. Normalerweise schreibt die Schriftstellerin Mely Kiyak für uns alle zwei Wochen eine politische Kolumne. In der Krise haben wir das zu einem täglichen Corona-Tagebuch ausgeweitet.
Wie nimmt das Publikum diese neuen Formate an?
Bei jeder unserer virtuellen Übertragungen haben wir mindestens 250 zahlende Zuschauerinnen und Zuschauer. Und virtuelle Tickets bedeuten ja meistens noch mehr Zuschauerschaft. Etwa 30 Prozent des digitalen Publikums kommen aus dem Ausland. Das zeigt, dass wir einen neuen Zugang für Menschen gefunden haben, die sich die Stücke nicht in Berlin anschauen können. So erreichen wir nicht nur viel mehr Menschen weltweit, sondern auch Publikum, das aus unterschiedlichsten Gründen nicht das Haus verlassen kann.
Welche Sorgen haben Sie mit Blick auf die Krise?
Ich fürchte, dass die Menschenrechte durch die Pandemie immer weiter zur Nebensache werden, vor allem in zwischenstaatlichen Beziehungen. Wir müssen unsere demokratischen rechtsstaatlichen Ansprüche erhalten, an ihnen arbeiten und sie auch immer wieder von Partnern einfordern. Die nationalstaatliche Fokussierung auf die Pandemiebewältigung hat die Menschenrechtslage in vielen Staaten noch verschlimmert.
Wir erleben, dass die Pandemie grundlegende fundamentale Menschenrechte mitten in Europa in Frage stellt. Wenn wir es nicht einmal hier schaffen, ein paar Tausend Geflüchteten eine sichere Unterkunft und Ernährung zu gewährleisten, dann klingen unsere Bekundungen von Solidarität in der Pandemie für mich hohl. Nur wenn wir es schaffen, Menschenrechte auch in einer Krise zu wahren, können wir alle eine Zukunft haben.
Wird genug getan, um die Kultur in der Krise zu unterstützen?
In der Pandemie haben sich Probleme, die bereits vorhanden waren, noch verschärft. Das ist in der Kunst- und Kulturszene nicht anders. Freie Künstlerinnen und Künstler waren auch schon vor der Pandemie in prekären Arbeitsverhältnissen. Im Vergleich mit anderen Ländern haben wir in Deutschland aber immer noch eine komfortable Situation. Wir haben zum Beispiel eine flächendeckende Theaterförderung in fast allen Städten Deutschlands.
Ich halte es für sehr wichtig, nicht nur die Wirtschaft und große Konzerne zu retten. Und auch nach der Pandemie, wenn es darum geht, Schulden abzubauen, darf die Kulturszene nicht auf die Streichliste kommen. Kunst- und Kulturförderung ist staatliche Aufgabe und Investition in die Gemeinschaft und sollte die Wertschätzung erfahren, die ihr nach dem Grundgesetz auch zusteht.
Was macht Ihnen in dieser schwierigen Zeit Hoffnung?
Die Aussicht, dass es auch ein Leben nach der Pandemie gibt. Es ist ja nicht das erste Mal, dass die Menschheit einer Pandemie begegnet. Es gibt die Erfahrungen von der Spanischen Grippe oder der Pest. Die Theater und natürlich auch die Menschheit haben viele Pandemien überstanden.
Solange der Mensch ein Mensch ist, hat er das Bedürfnis nach Begegnung, nach Austausch, nach Unterhaltung, nach Aufklärung, nach Erinnerungsarbeit, also nach Geschichten, Gesang, Tanz und Musik. Es gibt mir Hoffnung, dass es ein Danach gibt, in dem uns die Menschen wieder die Bude einrennen. Darauf freue ich mich sehr.
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