„Ich bin einfach Cem“
Migration, Diversität, Identität: Damit setzen sich diese jungen Deutsche und Israelis auseinander.
Wer bin ich? Wo bin ich zu Hause? Und was macht meine Identität aus? Ein Auslandsaufenthalt ist eine gute Gelegenheit darüber nachzudenken. Damit der Jugendaustausch in Deutschland und Israel bunt und divers ist und bleibt, gibt es das Projekt „Your Story Moves! – Begegnungen junger Menschen in Migrationsgesellschaften“. Israelische und deutsche Jugendliche trafen sich in verschiedenen Projekten. Sie tauschten sich darüber aus, wie Einwanderung und verschiedene Religionen Deutschland und Israel prägen und warum der gemeinsame Jugendaustausch von mehr Diversität profitiert. Zudem wollten die Teilnehmenden vor allem eine vielfältige und diskriminierungssensible Bildungsarbeit vorantreiben.
ConAct, das Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch, initiierte „Your Story Moves!“ als Teil des Projektes „Living Diversity in Germany and Israel“. Es wird von 2015 bis 2019 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ gefördert und in Kooperation mit dem israelischen Amt für Jugendaustausch umgesetzt. Ziel war es, die Achtsamkeit für die Vielfalt an kulturellen, religiösen und sexuellen Orientierungen sowie an körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu stärken.
Ende November 2019 trafen sich 80 der Teilnehmenden aus Deutschland und Israel beim Abschlussevent des Projektes in Potsdam. Die meisten haben Eltern oder Großeltern, die aus einem anderen Land stammen – das und die ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Identität verbindet sie alle.
„2018 kam ich über ein Austauschprogramm nach Berlin. Wir besuchten verschiedene Orte, etwa das Mahnmal ,Gleis 17‘ am Bahnhof Grunewald, das an die Deportation der Juden erinnert. Dadurch habe ich mehr von Deutschlands Geschichte verstanden. Deutschland ist ja eines der Länder, die die größte Zahl an syrischen Flüchtlingen aufgenommen haben. Ich hatte den Eindruck, dass sie mit offenen Armen willkommen geheißen wurden. Minderheiten werden akzeptiert, dachte ich. Türkischstämmige Menschen erzählten mir aber, dass sie oft dafür gelobt werden, dass sie so gut Deutsch sprechen. Dabei leben ihre Familien schon seit den 1960er-Jahren hier.
Meine eigene Identität wechselt immerfort. Meine Familie stammt aus Nordafrika. Aufgewachsen bin ich in Frankreich. Zu Hause sprachen wir Französisch. Mit 23 Jahren kam ich nach Israel. Bei uns ziehen die Leute häufig um. Wo man wie lange gelebt hat, ist ein beliebtes Thema für Small Talk. Da ich erst fünf Jahre in Israel wohne, habe ich lange nur gesagt, dass ich aus Frankreich stamme. Doch mein französischer Akzent ist schwächer geworden. Deshalb erzähle ich jetzt, wo ich in Israel wohne. Nur wenn ich ins Westjordanland fahre, stelle ich mich als Französin vor. Ich habe Angst, dass mich die Palästinenser weniger mögen, wenn ich offenbare, dass ich Jüdin bin – wegen des Konflikts, den wir haben. Erst wenn ich die Person näher kennengelernt habe, verrate ich, dass ich Jüdin bin.
Über ein Austauschprogramm nach Deutschland zu kommen, kann ich nur empfehlen. Man lernt verschiedene Kulturen kennen. Viele Leute haben ja in ihrem Alltag Konflikte, die sie für einzigartig und unlösbar halten. Wenn sie sehen, wie andere Menschen ihre Konflikte meistern, dann hilft ihnen das, mit den eigenen besser fertig zu werden.“
„Da ich Geschichte studiere, hat mich während meines Austauschs mit der Bar Ilan-Universität in Tel Aviv vor allem unser Ausflug nach Jerusalem beeindruckt. Es hat mich überwältigt, wie viele verschiedene Menschen und Religionen hier aufeinandertreffen. Durch den Aufenthalt habe ich gelernt, dass die israelische Gesellschaft nach wie vor stark von Migration geprägt ist. In den 1990er-Jahren trafen viele Einwanderinnen und Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion ein, im Moment kommen viele Menschen aus Frankreich. Ich kann mich mit diesen Migrationsgeschichten identifizieren: Meine Großeltern kamen in den 1960er-Jahren aus Istanbul nach Deutschland. Mein Vater war damals ein kleiner Junge. Er lernte nicht zusammen mit den deutschen Kindern, sondern musste eine Schulklasse mit türkischstämmigen Kindern besuchen. Als angehender Lehrer mache ich mir Gedanken darüber, wie ich künftig mit Schülerinnen und Schülern über Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen spreche. Ich meine nicht nur den Holocaust, sondern auch Genozide und andere Verbrechen in den Herkunftsländern zukünftiger Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. Ich fühle mich in der Verantwortung, das Thema so zu vermitteln, dass es die junge Generation bewegt. Ich persönlich mag keine Schubladen: In Deutschland will ich nicht zu allen Themen, die die Türkei betreffen, Stellung beziehen müssen. Umgekehrt bin ich nämlich ‚der Deutsche‘, wenn ich in der Türkei bin. Dort muss ich dann zu allem etwas sagen, was Deutschland angeht. Ich bin einfach Cem, und muss mich nicht auf eine Identität festlegen. Ich bin geprägt von verschiedenen kulturellen und sprachlichen Einflüssen.
Mein Glaube spielt für mich eine sehr große Rolle im Leben. Ich bin Alevite und gehöre somit einer religiösen Minderheit an. Im Herkunftsland unseres Glaubens, der heutigen Türkei, können wir uns nicht frei entfalten. Aber Deutschland hat uns diese Möglichkeit gegeben. Deshalb fühle ich mich auch besonders wohl hier.“
„Ich dachte immer, mehr Vielfalt als in Berlin geht nicht. Doch Tel Aviv und Akko belehrten mich eines Besseren. Menschen aus ganz verschiedenen Ländern und Kulturen prägen diese Städte. Nach Israel wollte ich schon lange einmal – auch weil sich dort das Weltzentrum der Bahai-Religion befindet, die mich sehr interessiert. 2018 bekam ich durch das Austauschprogramm die Möglichkeit das Bahai-Zentrum in Haifa und Jerusalem ausführlich zu erkunden. Ich hatte die ganze Zeit eine Forschungsfrage im Kopf: Wie zeigt sich die Religion in der Kleidung? Später schrieb ich meine Masterarbeit über die Macht der religiösen Kleidung: Wie multifunktional ist sie im Alltag? Einen Schwerpunkt legte ich auf die chassidischen Juden. Wenn ein Mann in Israel keine Kippa trug, war es oft unmöglich zu erkennen, welcher Religion er angehört. Aber eigentlich spielt das auch keine Rolle, denn ich will die Menschen so nehmen und akzeptieren wie sie sind. Eine Frau erzählte uns während des Austauschs, dass sie adoptiert wurde. Sie sagte: „Wenn eine andere Familie mich aufgenommen hätte, wäre ich heute vielleicht hinduistisch oder buddhistisch.“ Das hat mich sehr bewegt: Wer wir sind, wird auch von Zufällen und den Einflüssen anderer Menschen geprägt.“
„Kiryat Malakhi, die Stadt, in der ich arbeite, ist von Migration geprägt. Während jeder Einwanderungswelle kamen Menschen aus anderen Ländern dorthin: aus Nordafrika, aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Äthiopien. Jede dieser Gruppen hat die Stadt mit ihren Umgangsformen und ihrer Kultur verändert. Meine Großeltern stammen aus Rumänien, meine Eltern kamen in Israel zur Welt. Wir feiern die jüdischen Feiertage, genau wie die russischen und die äthiopischen. Nicht nur wir, sondern auch viele andere Menschen in Israel haben solche Traditionen übernommen. Ich bin sehr Interessiert an der Kultur und Herkunft der Menschen um mich herum, deshalb wollte ich natürlich auch sofort an einem Austauschprogramm teilnehmen, das sich mit Diversität beschäftigt. 2018 kam ich also nach Dortmund. Die Stadt gefiel mir sehr gut und ich hatte viel Spaß mit den deutschen Teilnehmern, mit einigen tausche ich mich bis heute aus. In Dortmund lernte ich verschiedene Organisationen kennen, die sich um die Belange von Migrantinnen und Migranten kümmern. Einwanderer aus allen Ecken der Welt haben diese Stadt geprägt. Genau wie Israel.“
Seit mehr als 60 Jahren gibt es den deutsch-israelischen Jugendaustausch. Mittlerweile finden jedes Jahr etwa 350 Austauschprogramme zwischen beiden Ländern statt. Initiiert und begleitet werden sie seit 2001 von ConAct, dem Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch mit Sitz in Lutherstadt Wittenberg.
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