Starkes Doppel
Von Bildung bis Brückenbau: Zwillingsstädte wie Görlitz und Zgorzelec zeigen, wie Zusammenarbeit funktioniert.
Wie sehr Nachbarn zusammengehören, merkt man manchmal erst, wenn der Alltag gestört, das Miteinander jäh unterbrochen wird. Für die sogenannten Doppelstädte an Oder und Neiße war die Corona-Pandemie ein Bruch, wie er zuvor kaum vorstellbar war. Frankfurt/Oder, Guben und Görlitz – diese drei deutschen Städte verwachsen mehr und mehr mit ihren polnischen Nachbarn. Frankfurt und Slubice etwa legen mit der Europa-Universität Viadrina und dem Collegium Polonicum einen großen Schwerpunkt auf internationale Zusammenarbeit in Forschung und Lehre. Das deutsche Guben und das polnische Gubin positionieren sich sowohl wirtschaftlich wie auch touristisch als eine Einheit im Lausitzer Seenland.
Nur die Neiße teilt die Europastadt
Auch Görlitz und Zgorzelec trennt lediglich ein Fluss: Historisch gesehen hat erst die 1951 offiziell anerkannte Oder-Neiße-Linie die Stadt geteilt. Die Jahrzehnte, die darauf folgten, waren geprägt von der Konfrontation der politischen Systeme. „Die Grenze war lange sehr präsent und schwer zu überwinden“, sagt Eva Wittig von der Europastadt GörlitzZgorzelec GmbH, der Marketinggesellschaft von Görlitz. Doch nach der Wende sei auf beiden Seiten schnell das Bewusstsein dafür gewachsen, welche Chancen in der Zusammenarbeit liegen. 1991 wurde ein Partnerschaftsvertrag zwischen Görlitz und Zgorzelec geschlossen, der 1998 in der Proklamation der Europastadt Görlitz/Zgorzelec mündete. Seither verfolgen die Kommunen das Ziel, mit gemeinsamen Konzepten und Projekten das Miteinander der Menschen auf beiden Seiten der Neiße zu stärken.
Grenzüberschreitende Versorgung mit Fernwärme
Ein Leuchtturmprojekt der binationalen Kooperation ist die grenzübergreifende Versorgung der Doppelstadt mit klimaneutral erzeugter Fernwärme. Bis 2030 wollen Görlitz und Zgorzelec ihre Infrastrukturen in diesem Bereich zusammenführen und damit mehr als 75 Tonnen CO2 pro Jahr einsparen – damit engagieren sich die beiden Städte für eines der größten grenzübergreifenden Fernwärmeprojekte Europas.
Es sind aber nicht nur die großen Infrastruktur-Investitionen, in denen sich das Zusammenwachsen zeigt. An fast allen Görlitzer Schulen wird Polnisch als Wahlfach unterrichtet, in den großen Supermärkten sind die Waren zweisprachig ausgezeichnet, der Arbeitsmarkt ist grenzübergreifend, und auch die Zahl der Polinnen und Polen, die in Görlitz leben, wächst kontinuierlich – mittlerweile sind knapp 5.000 Menschen mit polnischer Staatsbürgerschaft in der Stadt gemeldet, das sind rund zehn Prozent der Einwohner.
„Gemeinsam bringen es Görlitz und Zgorzelec auf gut 80.000 Einwohner. Das macht es möglich, auch größere Projekte gemeinsam anzugehen,“ sagt Eva Wittig: „Wichtig ist, dass es nicht nur einen institutionellen Rahmen gibt, sondern dass vor allem Menschen das Projekt engagiert vorantreiben.“ In Görlitz habe man das Glück, mit dem Oberbürgermeister Octavian Ursu und dem Zgorzelecer Bürgermeister Rafal Gronicz Verantwortliche zu haben, die voll hinter der Zusammenarbeit stehen und gemeinsame Ideen nach vorne bringen.
Brückenschlag über den Grenzfluss
Geplant ist auch ganz buchstäblich ein neuer Brückenschlag: Der Bau einer zweiten Brücke für den Autoverkehr wurde im Frühjahr 2022 beschlossen, 2030 soll das Projekt umgesetzt sein. Anfang 2023 wollen beide Städte außerdem eine gemeinsame, grenzüberschreitende Busverbindung einführen, die Deutsche und Polen mit einem „Europastadt-Ticket“ nutzen können.
Und auch der Görlitzer Hollywood-Glamour strahlt über die Grenze ab: Dank der mehr als 4.000 Baudenkmäler ist die Stadt immer wieder Drehort großer Produktionen, Filme wie „Grand Budapest Hotel“ oder „Der Vorleser“ wurden in Görlitz gedreht. Dass die Location-Scouts dabei auch den Blick über die Neiße werfen, ist längst selbstverständlich: In Zgorzelec ist das Dom Kultury, das Kulturhaus, eine beliebte Film-Kulisse – ein monumentaler Prachtbau aus dem Jahr 1902. Hier finden traditionell auch die gemeinsamen Stadtratssitzungen von Görlitz und Zgorzelec statt. Einmal im Jahr tagen beide Stadtparlamente gemeinsam, auch um nach außen ein Zeichen der Zusammenarbeit zu setzen.
Aber wie verkraftet es nun ein Doppelstadt-Paar wie Görlitz-Zgorzelec, wenn eine Pandemie von einem Tag auf den anderen dazu führt, dass Grenzen geschlossen werden, die längst überwunden geglaubt waren? „Ich denke, wir haben durch diese abrupte Trennung sehr deutlich realisiert, wie weit wir eigentlich im Miteinander schon vorangekommen sind und was alles selbstverständlich geworden ist,“ sagt Eva Wittig. „Das stimmt optimistisch für die Zukunft. Weil wir jetzt wissen, was uns die Zusammenarbeit bedeutet und wie sehr sie unser Leben prägt.“