Eine Grenze, die verbindet
460 Kilometer lang ist die deutsch-polnische Grenze – eine Reise entlang Oder und Neiße.
Von Zittau aus gen Norden entlang von Neiße und Oder verläuft die deutsch-polnische Grenze: rund 460 Kilometer lang. Wer sie bereist, lernt eine Grenze kennen, die nicht trennt sondern verbindet: Menschen, Projekte, Kultur, großes Kino und eine faszinierende Natur.
Zittau liegt tief im Südosten Sachsens, dort wo Deutschland, Polen und Tschechien im Dreiländereck aufeinander treffen. Die 25.000 Einwohner-Stadt in der Oberlausitz empfängt Gäste mit einem fast schon bilderbuchhaften Setting: Das denkmalgeschützte Zentrum liegt in einem fast kreisrunden Grünen Ring, der auf die Mauern der alten Stadtbefestigung zurückgeht.
Wer hier durch die Gassen spaziert, kann den historischen Reichtum der Stadt erahnen. Tuchhandel und Damastweberei haben Zittau reich und mächtig gemacht. Und auch der kostbarste Schatz der Stadt ist aus Stoff: das große Fastentuch aus dem Jahr 1472. Auf einer Fläche von über 55 Quadratmetern erzählen 90 Bilder die biblische Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht. Kunsthistoriker stellen das Fastentuch auf eine Ebene mit dem berühmten Teppich von Bayeux, zu sehen ist es im Chorbogen der alten gotischen Kirche „Zum Heiligen Kreuz“. Hierher kommen nicht nur Kunstinteressierte, sondern auch Pilgerinnen und Pilger. Zittau ist Ausgangspunkt der Via Sacra, auf der vor allem deutsche und polnische Gläubige unterwegs sind.
Peter Knüvener ist Vorsitzender des Vereins Via Sacra und Direktor der Städtischen Museen Zittau, er engagiert sich seit Jahren in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit. Noch bis Sommer 2023 läuft in Zittau und anderen Orten auf beiden Seiten der Grenze das Kulturprojekt „1000 und deine Sicht“. „Wir wollen damit den Dialog stärken“, sagt Knüvener. „Die Grenzschließungen in der Corona-Zeit haben dazu geführt, dass viele gewachsene Kontakte auf einmal stillgelegt wurden. Da ist viel aufzuholen.“
Kunst soll jetzt helfen, sich wieder näher zu kommen. In der ehemaligen Baugewerkeschule, einem Prachtbau direkt am Grünen Ring, wurde etwa das „Zentrum für offene Fragen“ eingerichtet. Jeder kann hier seine Fragen hinterlassen, an Wänden, auf Papier oder digital. Ausstellungen internationaler Künstler und ein Café fördern das Verständnis der Kulturen füreinander. „Wir verstehen das Projekt als Schule der Toleranz“, sagt Knüvener.
Knapp 40 Kilometer nördlich von Zittau liegt Görlitz, mit 57.000 Einwohnern die größte Stadt der Oberlausitz und der Filmstar unter den Grenzorten. Görlitz hat sich nicht nur als deutsch-polnische Europastadt GörlitzZgorzelec einen Namen gemacht, es hat auch das ganz große Kino in Deutschlands Osten gebracht. Hollywood liebt Görlitz: Von „Grand Budapest Hotel“ über „Inglorious Basterds“ bis „Der Vorleser“ – die Stadt bietet eine Kulisse, die Regisseure so nirgendwo anders finden. 4000 sorgsam restaurierte Gebäude aus Spätgotik, Renaissance und Barock haben den Zweiten Weltkrieg und die Vernachlässigung in der DDR überstanden. Touren zu den wichtigsten Drehorten führen etwa zum eleganten Jugendstil-Kaufhaus und zum Untermarkt mit dem „Braunen Hirschen“. Das Eckhaus hatte schon in etlichen großen Produktionen seinen Auftritt: als Apotheke, Gasthof und innen als Gelehrtenzimmer.
Auch wenn Görlitz als Deutschlands östlichste Stadt bekannt ist, das kleine 4000-Einwohner-Örtchen Rothenburg liegt noch ein Stück weiter im Osten. Tino Kittner bietet hier mit seinem Unternehmen Neiße-Tours seit 20 Jahren Bootstouren an und führt eine kleine Pension. „Als ich anfing, hielten das alle für unmöglich: Bootstouren auf dem Grenzfluss. Heute existiert die Grenze in meinem Kopf kaum noch.“ Deutsch-polnische Freundschaften und Ehen sind Normalität geworden, ein Drittel seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommt aus Polen. Er verzeichnet auch ein stetig steigendes Interesse an Touren ins Nachbarland. „Naturtourismus in Polen ist extrem gefragt“, sagt Kittner, der auch Rafting-Touren auf den polnischen Flüssen Bober und Queis anbietet.
Weiter Richtung Norden nach Brandenburg: Kurz vor Frankfurt / Oder, das mehr und mehr mit dem polnischen Slubice zusammenwächst, liegt das kleine Eisenhüttenstadt. Komplett auf dem Reißbrett geplant, baute das DDR-Regime „Stalinstadt“, so der offizielle Name bis 1961, als Wohnort für die Arbeiter und Arbeiterinnen im frisch gegründeten Eisenhüttenkombinat Ost. Dabei waren die Ansprüche hoch: Es sollte eine sozialistische Musterstadt entstehen, mit großen Plätzen, bunten Mosaiken an den Fassaden und sorgsam komponierten Blickachsen – zum Stahlwerk. Die Wohnkomplexe I bis III, zeigen den Zuckerbäckerstil des sozialistischen Klassizismus, sogar die frühere „Großgaststätte Aktivist“ ist heute wieder ein Restaurant.
Letzte Station auf der Grenzreise ist die Insel Usedom in der Ostsee; ein Spaziergang nach Polen gehört für viele Gäste hier zum Urlaubsprogramm. Gleich hinter der Grenze liegt Swinemünde, ein Ostseebad mit großem Kurpark und berühmt für den Grenzmarkt, auf dem vor allem deutsche Urlauber gerne einkaufen. Von Swinemünde zieht sich der 12 Kilometer lange Sandstrand über die Kaiserbäder Ahlbeck und Heringsdorf bis nach Bansin. Usedom bietet damit die längste Strandpromenade Europas – feiner weißer Sand, Sonne und Ostsee: Ein schöneres Ambiente für Völkerverständigung lässt sich kaum finden.