Die afghanische Community
Etwa 300.000 Menschen aus Afghanistan leben in Deutschland, ein Großteil von ihnen in der Metropolregion FrankfurtRheinMain. Wie sie leben und was sie eint, erfährst du hier.
Jamila Hassan war neun Jahre alt, als sie flüchten musste. Ihr Vater, ein angesehener Mathematikprofessor, war gefangen und gefoltert worden. Vor lauter Angst sah die Familie keinen anderen Ausweg als Schlepper zu beauftragen, Jamila zu Verwandten nach Europa zu bringen. Doch die ließen das kleine Mädchen ohne Deutschkenntnisse in Deutschland am Flughafen Hannover einfach allein zurück. Noch am Flughafen nahm eine Frau sie als Pflegemutter vorübergehend zu sich, bevor das Kind über Umwege ihre Familie in einem Flüchtlingslager in Ostdeutschland wiederfand.
Dort besuchte das Mädchen zunächst die Hauptschule, gehörte zu den Besten, schaffte es über Realschule und Gymnasium zum Abitur und studierte schließlich Medizin. Jamila wurde leitende Oberärztin mit mehreren Facharztqualifikationen, arbeitete an verschiedenen Krankenhäusern in der Rhein-Main-Region. Gerade ist sie mit einigen Kollegen dabei, ein eigenes medizinisches fachärztliches Versorgungszentrum für ältere Menschen im Süden von Frankfurt zu gründen.
Geringe Bindung an die Heimat
Flucht prägt die Geschichte vieler Afghaninnen und Afghanen in Deutschland. Etwa 300.000 Menschen aus Afghanistan leben in Deutschland, gut 230.000 mit eigener Migrationserfahrung. Ein Großteil von ihnen wohnt in der Metropolregion Frankfurt-Rhein-Main, vor allem in Offenbach, Darmstadt und Frankfurt. Nach Einschätzung von Experten stellen Afghanen in Deutschland eine der am besten integrierten Minderheiten dar.
Sie sei nie wieder in Afghanistan gewesen, sagt Jamila. Sie verabscheue jede Form von religiösem Fanatismus, der das Land nun wieder fest im Griff habe. Auch ihr Mann stammt aus Afghanistan, er ist Sozialarbeiter. Beide sind in Deutschland bestens integriert. „Ich liebe aber die afghanische Küche, das Essen ist für mich großer Genuss“, sagt sie. Ihr Geheimtipp ist ein afghanischer Lebensmittelladen in der Offenbacher Waldstraße. „Die backen dort auch ganz frisches afghanisches Brot und bereiten alle Spezialitäten zu, sogar Halim.“ Die Zubereitung des Weizenbreis mit Hühnerfleisch sei sehr aufwändig. „Meine Geschmacksknospen sind einfach darauf konditioniert“, sagt sie. Wenn also zum Selbstkochen keine Zeit bleibt, holt die Familie gerne Lebensmittel und fertiges Essen aus Offenbach.
Amil Talwar bedient im Frankfurter Bahnhofsviertel seit 20 Jahren viele Afghanen und Deutsche mit afghanischen Wurzeln, die in Frankfurt-Rhein-Main leben. Gefüllte Cremerollen, frische Datteln, beste Reissorten und allein sechs verschiedene Sorten Rosinen bietet er im „Kabul Bazar“ der Community, die sich bei ihm mit Lebensmitteln eindecken. Dazwischen auch silberne Samoware, Töpfe und allerlei Haushaltsartikel. Wenn man ihn nach den köstlichen Granatäpfeln aus Kandahar fragt, die die besten der Welt sein sollen und bisher immer im Herbst und Winter bei ihm zu haben waren, wird er ganz still. „Momentan ist es schlecht“, sagt er leise. Wegen der Lage in Afghanistan könne er gegenwärtig gar keine Lebensmittel von dort beziehen, der ganze Handel liege brach. Was er trotzdem an Köstlichkeiten anbietet, stamme derzeit meist aus Pakistan.
Nachhaltig, schon bevor es Mode wurde
Traurig über die aktuellen Geschehnisse im Land seiner Herkunft ist auch Saied Timori. Er betreibt eine Änderungsschneiderei mit Schuhreparatur in Oberursel, nördlich von Frankfurt. Seit sieben Jahren ist er selbständig, zuvor war er dort angestellt. Die Türglocke bleibt keine fünf Minuten still, denn er wird sehr geschätzt für seine gute handwerkliche Arbeit. Selbst dem ältesten Köfferchen verpasst er wieder einen neuen Griff. Hier wird nichts weggeworfen, Nachhaltigkeit hat er schon praktiziert, als es noch nicht in Mode war.
Mit acht Jahren musste er seine Heimat verlassen, lebte in Iran und in der Türkei, bevor er vor 20 Jahren nach Frankfurt-Rhein-Main kam. Der 46-Jährige arbeitet täglich zehn Stunden, damit es sein Sohn und seine Tochter einmal besser haben. Beide besuchen das Gymnasium. Weil er fast nur arbeitet, hat er wenig Kontakt zu anderen Afghanen. Doch einmal im Monat fährt auch er in die Münchner Straße nach Frankfurt, um im „Kabul Bazar“ die leckeren Rosinen und den unvergleichlichen Basmatireis in großen Säcken einzukaufen.
Zuhause wird afghanisch gekocht, auch wenn seine Frau aus Litauen stammt. Sie macht seine Buchhaltung. Reis mit Hähnchen und Auberginen, viel vom Grill, gibt es abends. Hinterher auch mal Jalebi Halva, ein süßes Dessert. Von den afghanischen Süßigkeiten nimmt der schlanke Schneider aber meist Abstand, wegen der Figur, wie er sagt. Seine Geschwister leben noch in Kabul, er unterstützt sie finanziell, soweit er kann, Nichte und Neffe wohnen über seinem Laden, sind 2015 mit der ersten Flüchtlingswelle nach Deutschland gekommen.
Nadia Qani-Schwarz ist wohl die bekannteste Frau mit afghanischen Wurzeln in Frankfurt. Sie hat sich nach ihrer Flucht gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann zunächst als Putzfrau, Kassiererin und Bürokraft durchgeschlagen, ihre beiden Söhne dann allein großgezogen und vor fast 30 Jahren einen kultursensiblen Pflegedienst gegründet. Sie beschäftigt dort mehr als 50 Frauen mit mehr als 30 Nationalitäten, um den vielen in Frankfurt lebenden Migrantinnen und Migranten ein Alter in Würde in ihrem kulturellen und sprachlichen Umfeld zu ermöglichen. Dafür ist sie 2009 bereits mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Ihre Autobiografie trägt den Titel „Ich bin eine Deutsche aus Afghanistan“.
Und weil die Welt zwar sehr groß ist, manchmal aber auch winzig klein, trafen sich vor mehr als 20 Jahren Nadia Qani und Jamila Hassan zufällig auf einer afghanischen Hochzeit in Nürnberg. Es stellte sich heraus, dass Nadia in Kabul auf die gleiche Schule gegangen war wie Jamilas Mutter. Und weil diese noch ein halbes Jahr auf ihren Medizin-Studienplatz in Mainz warten musste, gab Nadia ihr kurzerhand einen Job im Pflegedienst und ließ sie während des Studiums bei sich wohnen. Deshalb nennt die Jüngere die Ältere auch heute noch „Tante“, obwohl sie eigentlich gar nicht verwandt sind. So funktioniert afghanische Community in Frankfurt.