Geboren 1964
Wir waren sorglos, gut ausgebildet – und wir waren viele. Über den stärksten Jahrgang der deutschen Nachkriegszeit.
Als ich endlich da war, im Oktober des Jahres 1964, glaubten meine Eltern, die Welt müsse von mir erfahren, und annoncierten meine Geburt im „Bochumer Anzeiger“. Sie glaubten, alles richtig gemacht zu haben, wurden aber enttäuscht. Denn in der Wochenendausgabe der Zeitung standen plötzlich lauter andere neugeborene Jungen mit dem Namen Stefan. Die Andreas- und Bernd-Welle schien vorüber, die Ulrich- und Dirk-Welle noch nicht, die Michael-Welle setzte erneut ein, doch meine Mutter hatte gehofft, dass ihr kleines, örtlich begrenztes Stefan-Reservat geschützt bliebe. Aber es gab keine Reservate mehr, wir überschwemmten das Land. Wir, 1964, der geburtenstärkste Jahrgang in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Fast 1,4 Millionen Menschen. Monat für Monat kam eine Stadt wie Siegen auf die Welt. Wir könnten alle 18 Bundesligastadien bis auf den letzten Platz füllen. Und die zweite Liga bekämen wir auch noch voll. 1964, das sind zum Beispiel Jürgen Klinsmann, Ben Becker, Hape Kerkeling oder Linda de Mol. Es gibt namhaftere Jahrgänge, schon möglich.
Im Jahr 1975, als ich aufs Gymnasium kam, waren in meiner Klasse 44 Kinder. Immer musste jemand loslaufen und versuchen, weitere Stühle zu holen. Drei andere Schüler in meiner Klasse hießen so wie ich. Stefan zu heißen hatte den Vorteil, nicht gleich nervös werden zu müssen, bloßЯ weil der Physiklehrer „Stefan“ rief. Es hatte den Nachteil, dass man sich ständig angesprochen fühlte, ohne gemeint zu sein. Den Dirks und Ulrichs und Martinas ging es nicht anders. Wir waren verwechselbar, vom ersten Moment an. Niemand von uns heißt Marcel-Leonhard oder Laura-Chantal. Wir wuchsen mit großen Brüdern und kleinen Schwestern auf, mit großen Schwestern und kleinen Brüdern. Unter unseren lamettaschweren Weihnachtsbäumen lagen niemals nur Geschenke für ein einziges Kind. Niemand von uns konnte das Gefühl entwickeln, irgendetwas auf dieser Welt exklusiv zu haben. Das war unser großes Glück.
Wo kommt ihr her, warum verstopft ihr alle interessanten Jobs? Das fragen uns plötzlich die Kinder der Generation Krise, junge Akademiker, die sich von Job zu Job hangeln und keinen sicheren Platz finden. Aus dem „Stern“ schauen uns diese Menschen vorwurfsvoll an, aus dem „Spiegel“, überall die leise Anklage: Wieso macht ihr euch so breit? Wann immer eine junge Generation in Berufe drängt, wird diese Debatte eröffnet, aber jetzt verschärft sich der Ton. Auch wir waren Krisenkinder, aber wir haben uns über die Krise lustig gemacht, als Aushilfstaxifahrer haben wir die Krise umkurvt. Wir haben das Leben nicht so ernst genommen, und vielleicht sind wir für unsere Ignoranz unverschämt reich belohnt worden. Ich greife jetzt vor, ich muss die Geschichte von Beginn an erzählen.
Als ich auf die Welt kam, an einem Samstagnachmittag, lief gerade „Bonanza“, die Fernsehserie mit dem dicken Hoss. Ich weiß es natürlich nicht, aber ich bilde mir ein, dass diese Sendung damals lief, weil sie immer lief, als ich klein war, genau wie „Daktari“ und die „Sportschau“. Es ist wichtig, das zu erwähnen, weil man sonst nicht erklären könnte, warum wir uns an die Vorstellung gewöhnen konnten, alles habe ein Happy End. Natürlich haben wir später, als unsere Gespräche politischer wurden, unentwegt über die Apokalypse gesprochen, aber das konnten wir ja nur deshalb, weil wir in Wahrheit das Gegenteil glaubten. Die nahende Katastrophe würde schon von einem unserer Helden abgewendet, von Che Guevara, Tarzan oder Bruce Lee mit der Todeskralle.
Wir waren viele, und wir haben die Enge ausgehalten, die beklemmende Enge zugestellter Kinderzimmer, die befreiende Enge abgedunkelter Engtanzpartys. Niemand von uns fand eine Freundin übers Internet. Wir entschieden uns, ohne recherchiert zu haben. Wir glichen nichts ab, wir brachen ohne Vorwissen auf. Wir waren das Gegenteil der „Generation World Wide Web“. Wir führten ein deutsches Leben, ohne es zu befragen. Wir waren einander nah, ohne es zu wollen. Und wenn wir ein Netzwerk brauchten, klingelten wir Freunde heraus.
Als die meisten von uns Abitur machten, 1983, bei manchen (wie mir) wurde es 1984, geisterte ein böses Wort durch die Zeitungen: Akademikerschwemme. „Ihr werdet alle arbeitslos.“ Jeder von uns, der sich an einer Universität für Germanistik, Geschichte oder ein anderes, scheinbar nutzloses Fach einschrieb, hat diesen Satz mindestens einmal gehört. Ihr werdet alle arbeitslos. Das war 1964 aus Sicht der Berufsberater. Wir haben diesen Satz wahrgenommen, aber ihn nicht für wahr gehalten. Wir waren das bestgelaunte Prekariat der Welt. Wir ließen uns durch Seminare treiben, lagen vor Universitätsgebäuden auf Wiesen, aber wir fragten uns nicht: Was ist der nächste Karriereschritt? Schon das Wort Karriere kam uns lachhaft vor. Uns fehlte der Sinn für die Beunruhigung, vielleicht, weil wir so viele waren.
Wir waren die Kinder der Kinder des Krieges, die unbesorgten Söhne und Töchter besorgter Mütter und Väter, und wenn je ein Generationenforscher etwas über uns herausfinden wollte, dann müsste er sich eine Deutschlandkarte aus dem Jahr 1964 nehmen und alle Orte einzeichnen, an denen Menschen ihr erstes Haus errichteten. Diese Karte wäre schwarz, das Land voll von Maurereimern und Dachziegeln, dieses Deutschland glaubte an ein Happy End. Nichts in einem beschädigten Land kann mehr Optimismus verströmen als Babygeschrei, das sich gegen das Malmen eines Betonmischers durchsetzt. Wir waren Deutschlands Baustellenkinder, die Früchte einer vorsichtigen und schließlich unbändigen Zuversicht. Wir sahen vieles zum ersten Mal: die knusprigen Hühnchen in den Restaurants der Kette Wienerwald, die gewaltigen Eisbecher in norditalienischen Cafés. Wir waren die Kinder, die hinten in den VW-Käfern in den engen Ablagekuhlen saßen, als unsere Eltern das erste Mal in ihrem Leben die Alpen überquerten und Italien erreichten, das Sehnsuchtsland, wo wir uns eine kleine Flasche Cola kaufen durften, mit vier Strohhalmen.
Auf den Partys unserer Eltern wurde damals viel geraucht, ihre eckigen Zigarettenpackungen von Stuyvesant, Lord oder HB waren frei von Warnungen. Überhaupt kamen die 70er-Jahre ohne Beipackzettel voller Nebenwirkungen aus. Als wir am Ende der Schule das Abitur schafften, fühlten wir den Stolz unserer Eltern. Niemand in unseren Familien hatte es jemals so weit gebracht. „Aus euch soll etwas Besseres werden“, das war der Appell unserer Eltern, so bieder, so bescheiden, so schlicht, dass daraus kein Thema für einen Generationenkonflikt werden konnte.
Die 68er behaupten von sich, sie hätten im Rudel gejagt und im Rudel geliebt. Dabei wissen sie nicht einmal, was ein Rudel überhaupt ist. Die 68er leben vom schönen Traum. Wir sind der Tag danach. Unsere Begriffe stammen aus den 70er- und frühen 80er-Jahren. Unsere Begriffe wurden größer und größer, ohne dass sie jemals eine große politische Gefahr erzeugt hätten. Massenuniversität. Massenarbeitslosigkeit. Gesamtschule. Gesamthochschule. Wann immer ein Wort etwas Massenhaftes umschließt, haben wir damit etwas zu tun. Unsere Worte zwangen Politiker, Gebäude zu errichten – und nicht, Systeme einstürzen zu lassen. Wir waren brav, wir sind es geblieben. Wir waren eine entfernte Nachhut der Straßenkämpfer, und nur wir hätten die ideale Truppenstärke für den Kampf gegen Systeme gehabt, aber wir schufen nichts Symbolisches, nicht einmal ein kleines Woodstock.
Unsere Uschi Obermaier hieß Suzi Quatro. Für ihr fehlendes politisches Bewusstsein entschädigte sie uns mit ihrer ruchlosen Stimme. Wir hörten ihre Langspielplatten auf wuchtigen Kompaktanlagen, die aussahen wie plattgedrückte Särge, die wir uns mit 14 zur Konfirmation schenken ließen. Darum hatten wir Evangelischen ein bisschen Mitleid mit den Katholiken, deren großes Fest die Kommunion war, im Alter von zehn. Da war eine teure Kompaktanlage noch nicht drin. Unsere Gewaltfantasien endeten bei den langhaarigen Rockern der Gruppe Deep Purple, die es während eines Konzerts im wohlerzogenen Japan fertigbrachten, dass die Fans alle Stühle zertrümmerten. Als Deep Purple auseinanderging, war glücklicherweise AC/DC da. Den optimistischen 70er-Jahren, der Zeit unserer Kindheit und Jugend, verdanken wir das Zutrauen. Deswegen sind wir ein wenig nostalgisch geraten. Die 70er, wie wir sie erlebten, waren ganz sicher ein kleiner, westdeutscher Glücksfall der Geschichte.
Eigentlich gibt es nicht viel zu sagen über uns. Erstaunliches ist nicht zu berichten. Wir haben ab und zu Geburtstag, das ist alles. 2014 werden wir fünfzig. Zu unseren Festen kommen hundert Leute. ▪