„Ein hohles Gefühl“
Alle zehn Jahre zeigt Oberammergau die berühmten Passionsspiele. 2020 sollte es wieder so weit sein. Dann kam das Coronavirus.
Am Ende war es auch eine Befreiung: Die Oberammergauer Passionsspiele werden um zwei Jahre verschoben, auf 2022. Das traditionsreiche Spiel vom Leben und Sterben Jesu, das in dem bayerischen Dorf am Rand der Alpen wieder eine halbe Million Menschen hätte anziehen sollen – es kann in Zeiten der Covid-19-Pandemie nicht stattfinden.
Oberspielleiter Christian Stückl hatte schon lange vor der offiziellen Absage „kein gutes Gefühl mehr“. Abstand halten – das geht nicht, wenn 2.000 Leute auf der Bühne stehen, so wie es in manchen Szenen der Fall ist. Und wenn die 4.500 Plätze gefüllt sind mit Zuschauern aus der ganzen Welt. Mehr als 100 Vorstellungen hätte es zwischen Mai und Oktober geben sollen. Aus logistischen Gründen hat man die Spiele gleich um zwei Jahre verschoben – neue Verträge müssen geschlossen und der aufwändige Ticketverkauf neu organisiert werden.
„Die richtige Entscheidung“, lautet das Echo in den Medien. Und doch trifft die Verschiebung auch die vielen Zuschauerinnen und Zuschauer, die Karten ergattert und sich gefreut hatten. Und sie trifft den Ort mit seinen 5.250 Einwohnern, von denen die meisten auch wirtschaftlich mit dem Passionsspiel verbunden sind – etwa im Bühnenbau oder als Hoteliers und Restaurantbesitzer.
Oberammergau und die letzten Tage Jesu – das gehört untrennbar zusammen. Seit fast 400 Jahren spielen die Menschen die Passion, die Leidensgeschichte Jesu Christi. Es sind keine Schauspielprofis, es sind Flugbegleiter und Gastwirtinnen, Schülerinnen und Forstingenieure, die zum 42. Mal seit 1634 das große Spiel stemmen wollten. Es hat ihren Ort berühmt gemacht: Das Passionsspiel ist Immaterielles Kulturerbe der UNESCO. Sogar die New York Times hatte in ihren „52 Places to go in 2020“ Oberammergau empfohlen. Vor allem US-Amerikaner lieben die Passion.
Christian Stückl hat nach der Absage „ein hohles Loch im Bauch“. Als die Verschiebung verkündet wurde, kamen ihm die Tränen. Kein Wunder, waren doch die Proben seit Monaten im Gange. Viel Geld und Energie ist in ein Ereignis geflossen, das nun keines wird. Dem Oberspielleiter wurde bewusst: „Du denkst, du hast alles im Griff – und dann merkst du, du hast gar nichts im Griff.“ Er schaut zurück in die Geschichte, in der Verschiebungen der Passionsspiele nicht ungewöhnlich waren. Als vor 100 Jahren die Spanische Grippe wütete, wurden die Spiele ebenfalls verschoben.
Cengiz Görür hätte in diesem Sommer als erster Muslim den Judas spielen sollen. Nach der Absage hat der Schüler sich gleich den Bart abrasiert und die Haare schneiden lassen. Es ist ein äußeres Zeichen, dass diesmal alles anders kommt als geplant. Denn zu Festspielzeiten gilt der uralte „Haar- und Barterlass“: Die Männer – außer jenen, die römische Soldaten spielen – dürfen sich nicht rasieren, und Männer wie Frauen müssen die Haare wachsen lassen.
Frederik Mayet kam mit seinem halblangen Haar und dem wachsenden Bart dem klassischen Jesusbild schon recht nah. Der 40-Jährige hat bei der Passion vor zehn Jahren den Jesus gespielt, er wird ihn auch 2022 spielen. Nun zitiert er einen der ersten Sätze der Passion: „Armut und Krankheit raffen euch dahin und ihr sehnt euch nach Gerechtigkeit!“ Diese Worte bekämen eine ganz andere Bedeutung in Zeiten, in denen das Coronavirus sich verbreitet. Die Schwachen in der Gesellschaft zu schützen, sei jetzt das Wichtigste.
Eine Seuche stand auch am Beginn der Spiele: Wenn sie von der Pest verschont würden, wollten sie die letzten Tage Jesu auf die Bühne bringen, haben die Oberammergauer 1633 geschworen. Eine andere Krankheit hat die Spiele jetzt gestoppt. Aber nur vorerst. Denn ein Energiebündel wie Christian Stückl lässt sich zwar aufhalten, aber aufgeben wird er nicht.
Der Theatermacher, der in Salzburg den „Jedermann“ auf die Bühne gebracht, die Eröffnungszeremonie der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland gestaltet hat und in München ein Theater leitet, ist der Motor der Oberammergauer Passion. Er hat dieses Spiel in ständigen Auseinandersetzungen reformiert. Zum Beispiel hat er durchgesetzt, dass die Frauen mehr Sprechrollen bekommen und die Gottesmutter Maria auch von verheirateten Frauen gespielt werden darf. Er hat dafür gesorgt, dass neben den Katholiken auch Protestanten und Muslime auf der Bühne stehen dürfen. Und er hat dem frühneuzeitlichen Passionsspiel den Antisemitismus ausgetrieben. Im Mai erhält er dafür den Abraham-Geiger Preis. Stückl habe „die Oberammergauer Passionsspiele erneuert: weg von christlichem Judenhass hin zu einer ausgewogenen Darstellung innerjüdischer Konflikte“.
Stückl hat schon angekündigt, dass sich die Textfassung für die Passionsspiele 2022 von der vor Corona geplanten unterscheiden wird. Die Welt verändere sich – und somit auch das Spiel.