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Erinnern, um zu 
verstehen

Themenjahre in Russland und Deutschland widmen sich dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg.

Роберт Калимуллин, 02.10.2015

Es war eine Übersetzung, die Gebhard Betz vielleicht das Leben rettete. In Jaroslawl, nordöstlich von Moskau, saß der aus dem schwäbischen Waldstetten stammende Betz 1949 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, als er wieder einmal zum Verhör gerufen wurde. Eine einheimische Dolmetscherin interpretierte seine Worte dabei so behutsam und vorsichtig, dass Betz vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in die Heimat zurückkehren konnte.

„30 Jahre lang hat mein Vater über seine Erlebnisse geschwiegen“, erinnert sich heute Tochter Irmhild Betz-Haberstock. Nach all dieser Zeit jedoch wollte Gebhard Betz der unbekannten Dolmetscherin danken, und nicht nur ihr, sondern „all den Menschen, die den Kriegsgefangenen damals Brot zusteckten, die die Augen zudrückten, wenn sie auf den Feldern etwas Essbares einsteckten“. Die Dolmetscherin hat Betz zwar trotz intensiver Suche in Russland nicht wiedergefunden. Doch die Suche begründete neue Freundschaften und einen bis heute anhaltenden Austausch mit Russland.

Vater Gebhard gab seinen Traum, dass nie mehr Krieg sein dürfe, an Tochter Irmhild weiter, die inzwischen bereits seit acht Jahren Austauschprojekte zwischen Jugendlichen aus Deutschland und Russland koordiniert. Das Kriegsende, die Wurzel ihres familiären Engagements für die Völkerverständigung, ist dabei 2015 auch offiziell Motto des Jugendaustauschs zwischen Deutschland und Russland. Die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch (DRJA) und ihre russische Partnerorganisation, das Koordinierungsbüro für den Jugendaustausch mit Deutschland, haben 2015/16 zum Themenjahr in beiden Ländern erklärt. Der Titel: „70 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs: Jugendaustausch – Verständigung – gemeinsame Zukunft“.

„Mit Austauschprogrammen zur Erinnerung an das Kriegsende sollen 1000 Jugendliche in Deutschland und Russland erreicht werden“, erklärt DRJA-Geschäftsführer Thomas Hoffmann. Derzeit prüft die Stiftung noch Anträge für Projekte im Themenjahr. Einer der Höhepunkte steht allerdings bereits fest: Unter dem Titel „Elb-Harmonie“ veranstalten der deutsche Verein MitOst und die Krasnojarsker Jugendorganisation Interra ein Treffen von Chören, die im Frühjahr 2016 in Hamburg gemeinsam für den Frieden singen wollen.

Den Auftakt der Themenjahre, die unter der Schirmherrschaft von Bundesjugendministerin Manuela Schwesig und dem russischen Bildungsminister Dmitrij Liwanow stehen, bildeten Anfang Juni eine feierliche Eröffnung und Workshops im Moskauer „Museum des Großen Vaterländischen Kriegs“. Großer Vaterländischer Krieg – unter diesem Begriff erinnern sich die meisten Russen an den Zweiten Weltkrieg, dem 27 Millionen Bürger der Sowjetunion zum Opfer fielen. Der Große Vaterländische Krieg beginnt in der russischen Erinnerung, wie der russische Historiker Wladimir Rudakow in einem Fachvortrag herausstrich, erst 1941 – mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Er umfasst somit nur einen Teil des Zweiten Weltkriegs, der von 1939 bis 1945 andauerte.

Die Formen des Gedenkens an den Krieg in Deutschland und Russland sind durchaus unterschiedlich: Dies betonte in Moskau auch Birgit Schwelling vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. „Postheroisch“, so Schwelling sei Erinnerungskultur in Deutschland. In ihrem Mittelpunkt: das Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewalt, Selbstkritik angesichts der deutschen Schuld und die aus ihr resultierende Verantwortung. Für Russland, so Schwellings russischer Kollege Rudakow, stehe dagegen gerade das Heldentum im Zentrum. Auch 70 Jahre nach Kriegsende ist es nicht zuletzt die Erinnerung an den Sieg über den Faschismus, die das riesige Land vereint.

Für den Jugendaustausch, so wünschte sich Schwelling, sollten diese Unterschiede aber nicht als Hindernis begriffen werden, „sondern als Chance, sich gegenseitig gerade in einem Dialog über ein schwieriges Thema besser zu verstehen.“ Bereits begonnen haben diesen Dialog 32 Schüler und Studierende aus beiden Ländern, die im Sommer im westfälischen Münsterland zusammenkamen, um gemeinsam an historischen Tagebüchern zu arbeiten. Eines davon: die Aufzeichnungen von Gebhard Betz aus den Jahren seiner russischen Kriegsgefangenschaft.

„Etwas merkwürdig“, erzählt Organisatorin Irmhild Betz-Haberstock, sei es für die Jugendlichen zunächst schon gewesen, sich mit dem Krieg auseinanderzusetzen – nicht jeder von ihnen hatte sich bereits intensiv mit dem Thema beschäftigt. „Etwas unruhig“ – mit diesen Worten beschreibt die 18-jährige Lena aus Jaroslawl ihre Gefühle im Vorfeld der Begegnung. „Ich hatte Angst, dass bei der Diskussion in einer russisch-deutschen Gruppe ein Konflikt entstehen könnte.“

Doch zum Konflikt kam es nicht, im Gegenteil: Einhellig berichten die Teilnehmer, die Nationalität habe bei den Diskussionen in der Gruppe keine Rolle gespielt. Der ebenfalls aus Russland mitgereiste 15-jährige Teilnehmer Dima findet, die von Übersetzern ermöglichte gemeinsame Arbeit an historischen Dokumenten habe „deutsche und russische Jugendliche vereint“. Und für Lena zerstreuten sich ihre Befürchtungen, nachdem sie zum ersten Mal aus dem Mund gleichaltriger Deutscher hörte, dass diese die russischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg „als Befreier, nicht als Aggressor“ sähen.

„Man begegnet sich ohne Vorurteile“, fasst die 18-jährige deutsche Austausch-Teilnehmerin Pauline ihre Erfahrung zusammen. Von der Verständigung zwischen den Jugendlichen könne durchaus auch die Politik in beiden Ländern lernen, findet Pauline ebenso wie viele andere Gruppenmitglieder: „Die Geschichten die man über andere Länder hört, müssen nicht immer stimmen. Auch sollte man eine Bevölkerung nicht für die Fehler früherer Generationen verantwortlich machen. Man sollte offen über Themen reden und versuchen die Sichtweise des anderen zu verstehen. Jeder Mensch hat eine eigene Meinung und darf diese auch haben. Man kann immer durch Kompromisse eine Lösung finden, aber dazu muss man versuchen den anderen zu verstehen.“ ▪

 

ZWEI STARKE PARTNER

Seit ihrer Gründung im Jahr 2006 fördert die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch (DRJA) den Dialog junger Menschen in Deutschland und Russland. Sie eröffnet deutschlandweit jungen Menschen die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild von Russland zu machen – etwa im Rahmen eines Austauschs, in Gruppen oder individuell. Die Partnerorganisation in Russland ist das Russische Koordinierungsbüro für den Jugendaustausch mit der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz in Moskau.

www.stiftung-drja.de

www.w-center.ru