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Gelebtes Miteinander – eine Schule, die keinen ausschließt

Gemeinsam lernen: Die Heinrich-Zille-Grundschule in Berlin unterrichtet behinderte und nichtbehinderte Schüler.

14.03.2013
© Andreas Nowak

Auf dem großen Pausenhof ist es still, der Schulgarten liegt an diesem Tag im Februar im Winterschlaf. In der Berliner Heinrich-Zille-Schule ist der Unterricht in vollem Gang. Eine Klasse lernt ein Gedicht, das zur kalten Witterung passt: „Das Büblein auf dem Eis“. 24 Mädchen und Jungen der Klassen eins bis drei sitzen in dem jahrgangsübergreifenden Unterricht an vier großen Tischen. Es geht ums Reimen und Dichten: Erkan (alle Namen der Schüler geändert) sucht Reimwörter. Elena und Lukas, der im Rollstuhl sitzt und körperlich behindert ist, finden gemeinsam Wortpaare beim Memory-Spiel.

Geht es zur Gruppenarbeit, schiebt Elena Lukas’ Rollstuhl einen Tisch weiter. Die beiden verstehen sich prächtig. Genau das will das Team aus Lehrerinnen und Erzieherinnen erreichen. Denn an der Schule wachsen behinderte und nichtbehinderte Kinder miteinander auf und werden zusammen unterrichtet. Klassenlehrerin Sibylle Kaczmarek ist überzeugt davon, dass die Kinder dabei „Akzeptanz von Unterschiedlichkeit lernen“. Im Bildungssystem wird dieses Miteinander in der Schule Inklusion genannt. In Deutschland war Inklusion lange nicht selbstverständlich. Kinder mit Behinderungen wurden seit den 1960er-Jahren häufig in sonderpädagogischen Einrichtungen unterrichtet. Seit Deutschland 2009 die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (VN) ratifiziert hat, in der die Rechte der Behinderten auf soziale Teilhabe, Chancengleichheit, Barrierefreiheit und Nichtdiskriminierung festgelegt wurden, ist viel Bewegung in das Bildungs­system gekommen. Laut Artikel 24 der Konvention müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu einem „inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen“ haben.

Der wird an der Heinrich-Zille-Schule in Berlin schon seit 20 Jahren erprobt: Etwa 40 der 400 Schulkinder haben einen besonderen Förderbedarf, weil sie Lernschwierigkeiten haben oder verhaltensauffällig sind. Mehrere Kinder sind körperlich oder geistig behindert. Die Schule, in der Schüler der Klassen eins bis sechs unterrichtet werden, will ein Gemeinschaftsgefühl stiften. 2010 wurde sie für ihre vorbildliche Arbeit mit dem Jakob Muth-Preis für inklusive Schule ausgezeichnet.

Inklusion ist für die Schulleiterin Inge Hirschmann nichts, was man einfach beschließt. Wenn alle Kinder individuell ­gefördert werden, stellt das besondere ­Herausforderungen an das Lernen und Lehren. „Man braucht Zeit, Entwicklungsphasen und gute Teams“, sagt Inge Hirschmann. So wie in der Lerngruppe von Sibylle Kaczmarek, wo die Kinder die Ergebnisse ihrer Aufgaben vortragen: Mutlu deklamiert stolz eine Strophe des neu erlernten Gedichts. Hanna kann schon alle Strophen vortragen und kennt sogar die Endreime. Und der behinderte Lukas ruft mit den Erstklässlern munter Reimwörter in den Raum. Von den Lehrkräften erfordert diese Form des Unterrichts viel Engagement. Aufgaben müssen entwickelt ­werden, an denen alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen mitarbeiten können und mit denen auch die leis­tungsstarken Mädchen und Jungen gefördert werden. Die Klassenlehrerin kann sich dabei auf die Hilfe einer weiteren Lehrerin und von Erzieherinnen verlassen. Vor allem der behinderte Lukas braucht eine ständige Betreuerin.

Das ist das Prinzip der Schule: Lehrerinnen und Lehrer sowie Sonderpädagogen und speziell ausgebildete Betreuerinnen bilden Lernteams, zu denen auch Erzieherinnen aus dem Hort gehören. Sie erarbeiten für die Kinder mit Behinderungen, Sprachdefiziten oder Verhaltensauffälligkeiten Förderpläne. Angebote gibt es für leistungsstarke und -schwache Kinder; Wochenpläne helfen dabei, dass die Kinder beim Lesen, Schreiben und Rechnen ihrem Tempo entsprechend gefördert werden.

Das Inkrafttreten der VN-Behindertenrechtskonvention hat der Schulleiterin bestätigt, dass sie auf dem richtigen Weg ist. „Wir erbringen den Beleg, dass in der inklusiven Schule auch Kinder mit schweren Behinderungen ihren Platz haben.“ Ihre Erfahrungen in Sachen Inklusion haben sie zur gefragten Gesprächspartnerin gemacht. Denn in Berlin, wo schon heute 50 Prozent der Schüler mit Förderbedarf in Regelschulen unterrichtet werden, soll bis 2020 das Konzept „Inklusive Schule“ umgesetzt werden. Behindertenverbände und Eltern- und Lehrerverbände konnten sich zu dem neuen Konzept äußern. So werden zum Beispiel Beratungsstellen eingerichtet, die Schulen auf dem Weg zur Inklusion begleiten. Zusätzlich stehen erfahrene Inklusionsschulen als Tandempartner Neulingen mit Rat und Tat zur Seite.

Hubert Hüppe, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, setzt sich dafür ein, dass sich die Schulen in Deutschland auf den Weg machen, um das „Menschenrecht auf Bildung“ umzusetzen. Er sieht allerdings auch ein Beharrungsvermögen vieler Beteiligter. In Deutschland müsse das getrennte Schul­system mit seinen sonderpädagogischen Einrichtungen erst umgebaut werden. „Inklusion wird in den 16 Bundesländern sehr unterschiedlich angegangen. Oft werden Förderschulen sogar ausgebaut, statt inklusive Schulen zu schaffen.“ Für ihn bedeutet die Einbindung behinderter Menschen, dass „wir gemeinsame Lebenswelten bilden“, und zwar in allen Bereichen des Lebens, ob im Beruf, in der Schule oder im täglichen Zusammenleben. Beobachtet hat Hubert Hüppe bei seinen Schulbesuchen vor allem eines: „Da, wo es ein inklusives Konzept gibt, werden die Leistungen aller Schüler besser.“ Das ist auch an der Heinrich-Zille-Schule so: Viele der Kinder bekommen nach der Grundschule eine Empfehlung fürs Gymnasium. ▪

Kerstin Schneider