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„Sensibler auf Konflikte reagieren“

So wirkt der Erste Weltkrieg bis heute nach: Politikwissenschaftler Herfried Münkler benennt Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit.

08.10.2018
Politikwissenschaftler Herfried Münkler
Politikwissenschaftler Herfried Münkler © dpa

Professor Herfried Münkler lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist einer der renommiertesten deutschen Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker. 2013 erschien seine Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs „Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918“.

Herr Professor Münkler, wie wirkt der Erste Weltkrieg bis heute nach?
Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ist der Erste Weltkrieg wesentlich mit der Konfrontation mit Frankreich verbunden. Das hat mit dem Stellungskrieg an der Westfront zu tun, mit den dort ausgetragenen Materialschlachten, aber auch mit dem in Deutschland als demütigend empfundenen Versailler Friedensvertrag, den man wesentlich dem politischen Willen der Franzosen zugeschrieben hat. Das ist ein eigener Geschichtsstrang, der über Hitlers Revisionskriege in der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs zu den deutsch-französischen Versöhnungsszenarien in Reims zwischen de Gaulle und Adenauer und in Verdun zwischen Mitterand und Kohl führten.

Das ist ein historisch abgeschlossenes Kapitel, in dem der Krieg nur noch eine ferne Erinnerung ist, die als Legitimationsnarrativ der Europäischen Union dient - jedenfalls von deren Achse Paris-Berlin. Also: Kein aktueller Konflikt, sondern eine den Ersten Weltkrieg erinnernde Erzählung, um zu verhindern, dass sich derlei wiederholt. Der Schauder der Vergangenheit wird gepflegt, um die inzwischen geschaffene Ordnung zu festigen.

Gibt es aktuelle Konflikte, die auf die Ausgangslage nach Kriegsende zurückzuführen sind?
In Südosteuropa, Teilen Osteuropas und dem Nahen Osten gibt es Konflikte, die im weiteren Sinn auf das Ende des Ersten Weltkriegs zurückzuführen sind. Mit der Donaumonarchie, dem Zarenreich und dem Osmanischen Reich bestanden bis 1917/1918 drei multinationale, multireligiöse und vielsprachige Großreiche, die dafür sorgten, dass nationale, religiöse und sprachliche Unterschiede nicht in politische Trennlinien verwandelt und dann zu Freund-Feind-Erklärungen zugespitzt wurden.

Zwischen 1919 und 1938, dem Beginn von Hitlers Revisionspolitik, sind dort einige Kriege geführt worden: Polen gegen Sowjetrussland um Galizien, Ungarn gegen Rumänien um Siebenbürgen, Griechenland gegen die Türkei um das Gebiet von Smyrna. Diese Kriege waren von Vertreibungen und Umsiedlungen begleitet. Jugoslawien und die 1922 gegründete Sowjetunion knüpften an die Tradition einer Entpolitisierung ethnischer und religiöser Gegensätze an. Als sie zerfielen, war das in den 1990ern von den Balkankriegen und den Kriegen im Kaukasus begleitet.

Es ist gelungen, diese Kriege zu beenden. Aber die Konfliktlinien sind nach wie vor latent, besonders in der Schwarzmeerregion mit der Ukraine im Norden und der Türkei im Süden. All das sind Regionen, in denen von 1914 bis 1918 Krieg geführt wurde: Deutsche Generäle haben im Nahen Osten kommandiert, dort waren auch deutsche und österreichische Truppen. Die Ukraine ist 1918 mit deutscher Hilfe erstmals unabhängig geworden. In Georgien standen bayerische Gebirgseinheiten. Das alles sind Konfliktlinien, die bis heute fortbestehen – oder soll ich sagen: Zündschnüre für Pulverfässer, die leicht in Brand geraten können. Auch der Israel-Palästina-Konflikt hat im Ersten Weltkrieg seinen Anfang genommen.

Man hat 1914 in den politischen Machtzentren den Konflikt am Rande Europas nicht ernst genommen und seine politische Sprengkraft unterschätzt.
Politikwissenschaftler Herfried Münkler zum Ersten Weltkrieg

Welche Erkenntnisse ergeben sich aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs für die Lösung von Krisen in und außerhalb Europas?
Dass vieles, wovon wir glauben, es spiele politisch keine Rolle mehr, in anderen geographischen Räumen nach wie vor brisant ist. Bei den jugoslawischen Zerfallskriegen haben wir das ja gesehen. Aber wir haben das schnell „entlernt“, weil es unsere Weltsicht allzu sehr irritiert hat. Wegschauen verändert jedoch die Konstellationen nicht.

In gewisser Hinsicht war das auch das Problem im Sommer 1914: Man hat in den politischen Machtzentren den Konflikt am Rande Europas nicht ernst genommen und seine politische Sprengkraft unterschätzt. Man sollte die Bedeutung der Peripherie für das Zentrum nie unterschätzen. Das ist die erste Lehre für die Behandlung heutiger Krisen.

Ethnische und religiöse Konflikte, so die zweite Lehre, schwelen vor sich hin. Sie entwickeln sich untergründig, bis sie durch systematische Provokationen hochkochen. Man braucht sensiblere Frühwarneinrichtungen als bei rein politischen Konflikten. Und man darf nicht vergessen, dass solche Kriege auch nach ihrer offiziellen Beendigung untergründig weiterschwelen. Häufig haben sie noch eine soziale Komponente. Gewalt ist dann ein politisches Mittel zur Umverteilung von Ressourcen und Erwerbschancen.

Wer einen stabilen Frieden will, ist auf Gewaltabkauf angewiesen: Entweder durch Umverteilung im Land oder Zuschüsse von außen.

Sobald es um Ressentiments geht, ist Erinnerungskultur kriegsaffin, weil sie daran erinnert, dass noch Rechnungen offen sind.
Politikwissenschaftler Herfried Münkler zum Ersten Weltkrieg

Wie wichtig ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur?
Eine Kultur der Erinnerung an die Zerstörungen von Kriegen ist dann sinnvoll, wenn unter dem Strich alle verloren haben: Söhne und Väter, materielle Werte, Lebenschancen. Das ist so bei dem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, wo es um Interessen, Macht und Einfluss ging. Hier sprechen die Kosten-Nutzen-Bilanzen gegen Krieg, so dass jede Erinnerungskultur kriegsavers ist.

Das ist jedoch ganz anders, sobald es um Ressentiments, Rachegefühle, das Bedürfnis nach Revanche, unbedingte Werte und Wahrheiten, wie etwa die einer Religion, geht. Hier ist Erinnerungskultur kriegsaffin, weil sie daran erinnert, dass noch einige Rechnungen offen sind.

Kriege wie die, welche Deutsche und Franzosen gegeneinander geführt haben, dürften der Vergangenheit angehören. Aber das gilt nicht für die „neuen Kriege“, an denen die Gewaltakteure oft genug verdienen. Solche Kriege finden an der Peripherie der Wohlstandszonen statt. Sie können aber auf die Zentren übergreifen; deswegen sind wir gegen sie nicht gefeit.

Erinnerungskultur ist wichtig und hilfreich, wenn sie dazu führt, dass wir solche Gefahren nicht aus dem Auge verlieren.

Interview: Tanja Zech

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