Die „Boat People“ und ihre Kinder
Vor fast 40 Jahren kamen Vietnamesen als erste außereuropäische Flüchtlinge nach Deutschland. Heute sind die „Boat People“ und ihre Kinder gut integriert. Wie gelang das?
Das Meer schien ihnen der letzte Ausweg. Rund anderthalb Millionen Menschen stiegen auf Schiffe, häufig eher Wracks, und verließen mit unsicherer Bestimmung ihre Heimat Vietnam. Krieg und Verfolgung hatten sie vertrieben. Man nannte sie „Boat People“. Wie viele die Flucht nicht überlebten, weiß niemand genau. Der Exodus begann 1978 als zweite Welle, nachdem bereits hunderttausende infolge der Kapitulation Südvietnams im Jahr 1975 auf dem Landweg oder mit den abziehenden US-Truppen das Weite gesucht hatten. Jetzt kamen sie also über das Wasser, auf eine Zukunft in der Ferne hoffend. An Bord war die Not oft unbeschreiblich. Bilder von ausgemergelten Geretteten und überfüllten Auffanglagern gingen um die Welt.
Die Bilder berühren Millionen Fernsehzuschauer und lösen eine Welle der Unterstützung in Deutschland aus. Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht, der Vater der heutigen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, entschied 1978 als Erster, vietnamesische Flüchtlinge in seinem Bundesland aufzunehmen. Wenig später gründete der Journalist Rupert Neudeck das private Hilfskomitee „Ein Schiff für Vietnam“, charterte den Frachter „Cap Anamur“, baute ihn mit Spendengeldern um und schickte ihn Richtung Vietnam. Über 10.000 Vietnamesen kamen allein auf diesem Weg nach Deutschland. Sie waren die ersten Flüchtlinge, die von außerhalb Europas nach Deutschland zuwanderten.
Man brachte diesen Menschen viel Mitgefühl entgegen, erklärt der Historiker Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück. Die Hilfsbereitschaft war groß, und die Berichterstattung in den Medien hatte viel dazu beigetragen. Heute, fast vier Jahrzehnte später, sind die einst Entwurzelten gut in der deutschen Gesellschaft angekommen. Schätzungen zufolge dürfte ihre Zahl bis zu 50.000 Personen umfassen. „Es wurde alles nur begrenzt dokumentiert“, betont Oltmer. „Wir haben ausgesprochen wenig Forschung über die Boat People in Deutschland.“
Trotz der Datenlücken gelten die vietnamesisch-stämmigen Bundesbürger längst als Musterbeispiel gelungener Integration. Wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand haben viele von ihnen erreicht, ihre Kinder wurden oft Ärzte, Ingenieure oder Wissenschaftler. Wie gelang die Integration? „Sie haben sehr schnell erkannt, dass man hier nur über Bildung etwas erreichen kann“, sagt Jochen Oltmer. Die Chancen, die das deutsche Schulsystem bietet, wurden, und werden, dankbar angenommen. Oltmer meint jedoch, auch die Haltung der deutschen Gesellschaft sei entscheidend gewesen. Ihre Offenherzigkeit habe die vietnamesischen Flüchtlinge stark motiviert. Die Bildungsorientierung dieser Gruppe wäre somit zu einem wesentlichen Teil das Ergebnis einer engagierten Integrationspolitik. Mit anderen Worten: Wer sich willkommen fühlt, will auch gerne schnell ankommen. Das spornt die Menschen an.
Olaf Beuchling vertritt eine andere Sichtweise. Der an der Universität Magdeburg lehrende Erziehungswissenschaftler erforscht bereits seit über 15 Jahren die gesellschaftliche Eingliederung ehemaliger vietnamesischer Flüchtlinge. Den Kern ihres Erfolgs sieht er in der Mentalität der Neuankömmlinge selbst. „Es gibt eine ganz wichtige, kulturgeschichtliche Grundlage“, erklärt Beuchling. Vietnam gehöre schließlich zum so genannten meta-konfuzianischen Kulturraum. Unter der chinesischen Herrschaft vor mehr als 1.000 Jahren wurde der Konfuzianismus Staatsdoktrin. Diese Lehre stellt Harmonie in weltlichen Dingen in den Mittelpunkt, wie Beuchling erläutert. „Dazu gehörte auch, dass in diesen Ländern ein vormodernes Bildungssystem installiert wurde.“ Es stand allen männlichen Bürgern offen. So konnte man sich, unabhängig von der Herkunft, durch Schulung und Leistung für den Staatsdienst qualifizieren und dort Karriere machen.
Das Erbe des Konfuzianismus prägt bis heute, sagt Olaf Beuchling. „Lernen gilt in diesen Kulturen als Tugend.“ Diese Einstellung hätten die vietnamesischen Flüchtlinge auch in ihre neuen Heimatländer mitgenommen, meint Beuchling. Für die Familien hat die Bildung der Kinder oberste Priorität. Man investiert viel Zeit und Geld, unter anderem für private Nachhilfestunden. In Bezug auf die Noten herrscht innerhalb der vietnamesischen Gemeinschaften oft ein regelrechter Wettbewerb. Zeugnisse werden sogar auf speziellen Webseiten veröffentlicht, damit sie für alle sichtbar sind. Der Erfolg des Nachwuchses hebt schließlich auch den Status der Eltern, erklärt Beuchling. „Das ist ein typisches Merkmal kollektivistischer Kulturen.“
Internationaler Tag der Migranten am 18. Dezember 2016
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