Die neuen Deutschen
Vom Deutschsein und Deutschwerden – wie die Herausforderung des Flüchtlingszustroms zu einer Win-win-Konstellation werden kann.
Im Jahr 2015 sind 1,1 Millionen Menschen als Flüchtlinge und Asylbewerber nach Deutschland gekommen, und im Jahr 2016 werden noch einmal 300 000 bis 400 000 Menschen dazukommen. Viele der Neuankömmlinge sind davon überzeugt, dass sie nach Ende des Kriegs oder Bürgerkriegs in ihr Herkunftsland zurückkehren werden. Und die deutsche Verwaltungspraxis geht ebenfalls davon aus – doch die Geschichte des Exils und der Migration zeigt, dass viele von ihnen bleiben werden: die einen, weil es für sie keine Rückkehr in ihre Herkunftsländer gibt, die anderen, weil sie in der Zeit ihres Aufenthalts hier „Wurzeln geschlagen“ haben.
Über den Umgang mit diesen Menschen ist in Deutschland ein politischer Streit ausgebrochen, in dem zwei Seiten einander schroff gegenüberstehen: diejenigen, die unter der Überschrift „Willkommenskultur“ für eine freundliche und hilfsbereite Aufnahme dieser Menschen einstehen, und jene, die sie gar nicht ins Land lassen wollten und denen es nun darum geht, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Dazwischen steht die große Masse derer, die dieser Herausforderung in einer Mischung aus Irritation über das aggressive Diskussionsklima und Sorge um die Integrierbarkeit vieler Neuankömmlinge gegenübersteht. Wieder einmal debattiert die deutsche Gesellschaft über ihre Identität und die Frage, wer die Deutschen sind und wer sie sein wollen.
Für diejenigen, die an einer ethnisch vorgegebenen Identität orientiert sind, kann es natürlich keine „neuen Deutschen“ geben. Für sie ist man Deutscher durch Geburt und kann es nicht werden. Für diejenigen, die Deutschsein kulturell definieren, kann man durchaus Deutscher werden, aber dazu ist eine sehr hohe Hürde der kulturellen Assimilation zu überwinden. In der Regel verbirgt sich hinter der kulturalistischen Definition des Deutschseins ein antiislamischer Affekt: Ein Muslim, so der Subtext, kann kein Deutscher werden. Die ethnische wie die kulturalistische Definition laufen also auf eine Exklusionsbegrifflichkeit hinaus. Ihr Hauptzweck besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Hürden für einen dauerhaften Zugang nach Deutschland möglichst hoch und kaum zu überwinden sind.
Nun hat Deutschland aber ein Problem, und das ist seine niedrige demografische Reproduktionsrate. Das Land ist, will es seine Position in der Weltwirtschaft, sein Wohlstandsniveau und die Versorgungsdichte seines Sozialstaats auch in Zukunft behalten, auf Zuwanderung angewiesen. Man spricht dann von sozialer Reproduktion, die das ausgleicht, was an biologischer Reproduktion fehlt. Das ist nichts Neues: Seit dem späten Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts, als Deutschland aus einem Agrarland zu einem Industriestaat wurde, fand neben einer starken Binnenwanderung fast immer auch Zuwanderung von außen statt. Sie erfolgte nach politischen Umbrüchen auch wellenförmig: nach dem Ersten und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, seit den 1960er-Jahren in Gestalt der „Gastarbeiter“ und schließlich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Die Formel, Deutschland sei kein Einwanderungsland, gehört zu den immer wieder aufgetischten Lebenslügen der Republik. Tatsächlich hat es auch in der Vergangenheit immer wieder „neue Deutsche“ gegeben, die das ihre zum Wiederaufbau und zum Wohlstand des Landes beigetragen haben. Viele von ihnen sind weder durch ethnische noch durch kulturalistische Definitionen des Deutschseins daran gehindert worden, zu Deutschen zu werden.
Moderne Gesellschaften müssen auf die Vorstellung nationaler Zusammengehörigkeit keineswegs verzichten. Aber sie müssen exklusive durch inklusive Definitionen der Nation ersetzen. Ein inklusiver Nationsbegriff und eine offene, flexible und zukunftsorientierte Gesellschaft gehen sehr wohl zusammen. Sie ergänzen sich geradezu und geben sich wechselseitig Halt. Es sind fünf Merkmale, die in diesem Sinn das Deutschsein in einer modernen Gesellschaft ausmachen. Zwei davon sind wesentlich sozio-ökonomischer Art: Man geht davon aus, dass man sich und gegebenenfalls seine Familie durch eigene Arbeit und Leistung zu versorgen imstande ist. Selbstverständlich gibt es soziale Sicherungssysteme, aber diese sind nur für den Notfall da und nicht dazu, es sich in ihnen bequem zu machen.
Diesem Arbeitsethos korrespondiert, zweitens, die Chance eines an Leistung geknüpften sozialen Aufstiegs. Nicht nur, weil auch dies ein Merkmal der offenen Gesellschaft ist, sondern vor allem, um zu verhindern, dass die Zuwanderung zu einer „Unterschichtung“ der Gesellschaft führt, bei der die Neuankömmlinge auf Dauer wegen ihrer Herkunft, ihres Namens, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ihres Geschlechtes auf den untersten Stufen der Gesellschaft festgehalten werden – auch wenn der soziale Aufstieg möglicherweise erst bei den Kindern stattfindet.
Neben diesen beiden sozio-ökonomischen gibt es aber auch zwei sozio-kulturelle Merkmale des Deutschseins, und das ist zunächst die Überzeugung, dass der religiöse Glaube eine Privatangelegenheit ist und ihm keinerlei Definitionsmacht bei der Ausgestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung zukommt. Das schließt indes nicht aus, dass ein jeder und eine jede aus seinem und ihrem persönlichen Glauben heraus sich in der deutschen Gesellschaft und für das gesellschaftliche Leben engagieren kann. Und als ein weiteres Merkmal des Deutschseins ist zu nennen, dass es jedem und jeder freisteht, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, und dass dies nicht von der Familie vorgeschrieben wird. Und schließlich gehört ganz entscheidend zum Deutschsein beziehungsweise zum Deutschwerden das Bekenntnis zum Grundgesetz.
Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass manche von den in Deutschland Alteingesessenen dem einen oder anderen dieser Merkmale nicht genügen. Das aber heißt nur, dass diese Merkmale nicht bloß eine Durchlasskontrolle des Deutschwerdens sind, sondern auch ein Antriebsmoment zur Revitalisierung der Gesellschaft. Diese Revitalisierung muss auch diejenigen Deutschen einschließen, die sich innerhalb der Gesellschaft abgehängt fühlen, weil das zunehmend stärkere Gefälle zwischen prosperierenden Städten und sich entvölkernden ländlichen Räumen ihnen ein Gefühl des Überflüssigseins gibt. Die Bedeutung einer solchen Revitalisierung wird häufig unterschätzt, und doch ist sie unverzichtbar für die Selbstbehauptung demokratischer Gesellschaften. Insofern kann das, was sich auf den ersten Blick als Belastung der deutschen Gesellschaft ausnimmt, die Aufnahme, Versorgung und schließlich Integration der nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge, zu einem Revitalisierungsprojekt werden, mit dem die Deutschen ihre politische und wirtschaftliche Stabilität für die nächsten Jahrzehnte festigen.
Die Integration der 1,5 Millionen Menschen in die deutsche Gesellschaft kann deshalb keine Maßnahme, kein Verwaltungsakt sein, der von den Behörden vorgenommen wird, sondern es handelt sich um einen langwierigen Prozess, bei dem Staat, Arbeitsmarkt und Zivilgesellschaft zusammenwirken müssen. Dabei wird es immer wieder Rückschläge und Enttäuschungen geben, da die meisten derer, die hierher gekommen sind, nicht die Voraussetzungen mitbringen, die für ein Beschäftigungsverhältnis auf dem deutschen Arbeitsmarkt vonnöten sind. Es ist also erforderlich, in diese Menschen zu „investieren“, Geld einzusetzen zum Spracherwerb und für Ausbildungsabschlüsse. Dabei wird es darum gehen, dies möglichst breit und umfassend zu tun und sich bei diesem „Empowerment“ nicht von der juristischen Sortiermaschine der deutschen Behörden, also ihrer jeweiligen rechtlichen Einstufung in subsidiär Schutzbedürftige, anerkannte Asylanten und Geduldete beeinflussen zu lassen. Diejenigen, in die nicht investiert wird und die dann doch bleiben, werden für die deutsche Gesellschaft sehr viel teurer werden, als wenn man sich entschlossen um ihre Befähigung bemüht. Das Projekt, aus den nach Deutschland Geflüchteten neue Deutsche zu machen, folgt dem Imperativ, aus einer dramatischen Herausforderung eine Win-win-Konstellation zu machen, von der sowohl die Flüchtlinge als auch die deutsche Gesellschaft profitiert. Fundamentale Ablehnung und Hass dagegen schaffen, was sie zu verhindern vorgeben: eine auseinanderfallende Gesellschaft, die an ihren gemeinsamen Aufgaben scheitert. ▪