„Nicht so weit voneinander entfernt“
In der Flüchtlingskrise vertraten Deutschland und Tschechien oft unterschiedliche Ansichten. Mit einem Migrationsdialog wollen sie im Gespräch bleiben. Ein Interview mit Vladimír Špidla, Chefberater der tschechischen Regierung.
Herr Špidla, der Migrationsdialog war eine Initiative Ihres Landes. Welche Erwartungen verbanden sich damit?
Die Idee entstand auf dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlingskrise. Die Diskussionen wurden immer härter und man hat klar gesehen, dass es sehr viele Missverständnisse zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik gab. Ich hasse Missverständnisse, sie komplizieren den politischen Dialog. Deshalb wollten wir unbedingt eine bessere Grundlage für den Austausch schaffen. Einen strategischen Dialog der beiden Länder gab es bereits – so lag es nahe, den Migrationsdialog daran anzuknüpfen.
Das anstehende Treffen in Prag ist bereits das dritte. Was hat der Dialog aus Ihrer Sicht bisher gebracht?
Zunächst einmal haben wir bei den Treffen in Prag und Berlin gesehen, dass unsere Positionen gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Ich denke, für die deutsche Seite war zudem interessant zu erfahren, dass es in der Tschechischen Republik eine wirkliche Integrationspolitik gibt. Vom Umfang her sind die Angebote natürlich nicht mit denen in Deutschland vergleichbar, qualitativ und inhaltlich aber schon. Auch wir haben uns in Deutschland Integrationsprojekte angesehen, unter anderem ein Bildungszentrum. Für mich war eine wichtige Erkenntnis, dass junge Migranten dort nicht in einer separaten Klasse lernen, sondern zusammen mit den deutschen Teilnehmern. Solche Erfahrungen können wir nutzen und auch bei uns umsetzen.
Welche sind die wesentlichen Themen beim kommenden Besuch der deutschen Partner?
Wir werden wahrscheinlich ein oder zwei gemeinsame Projekte im Ausland initiieren, um Fluchtursachen zu bekämpfen. Wo genau, ist noch nicht klar. Möglicherweise in Jordanien – im Flüchtlingscamp Zaatari haben wir eine gute Basis. Über den Ort und die Ausrichtung der Projekte möchten wir mit unseren Gästen diskutieren. Außerdem wollen wir ihnen ein Integrationsprojekt in Prag zeigen: Es wird umgesetzt von einer Nichtregierungsorganisation, die Migranten bei ihrer Ankunft und danach Hilfe leistet.
Sie haben bereits angesprochen, dass es in der Flüchtlingsfrage Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik gab. Sind die Beziehungen dadurch belastet?
Natürlich war die Situation sehr problematisch, es bestand ein hoher Diskussionsbedarf. Aber nachhaltig belastet sind die Beziehungen dadurch sicherlich nicht, dafür sind sie zu eng und zu gut.
Die EU ist derzeit innen- wie außenpolitisch stark gefordert, viele sorgen sich um den Zusammenhalt in Europa. Kann mehr Dialog dazu beitragen, diese Probe zu bestehen?
Ich glaube schon. Auch der Migrationsdialog war anfangs sehr schwierig. Jetzt stehen die Partner aus beiden Ländern sich wirklich näher, bei den Treffen ist das ganz deutlich. Es braucht den persönlichen Austausch und einen gewissen Mut, auch unangenehme Dinge zu besprechen. Dann lassen sich Antworten selbst auf große Fragen finden.
Zur Person: Vladimír Špidla führte von 2002 bis 2004 als Ministerpräsident die tschechische Regierung. Von 2004 bis 2010 war er EU-Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit. Für seine Verdienste um bessere Arbeitsbedingungen erhielt er den Hans-Böckler-Preis der Stadt Köln.
Das Gespräch führte Helen Sibum.