„Für eine pluralistische Türkei“
Gökay Sofuoğlu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, über Polarisierungen, Menschenrechte und die Haltung der Türken in Deutschland.
Herr Sofuoğlu, bei der Abstimmung über die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei hat eine Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken diese Verfassungsreform befürwortet. Das bestätigt den politischen Kurs von Präsident Erdoğan und der aktuellen türkischen Regierung, die schon jetzt die Rechte von Oppositionellen, aber auch von Journalisten, einschränken. Wie erklären Sie sich, dass dieser Kurs von in Deutschland lebenden Türken angenommen wird?
Das ist einerseits schwer zu erklären: Warum wünschen sich Menschen, die in Deutschland in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung leben, für die Türkei eine derart autokratische Staatsform? Was die Menschen bewegt hat, war natürlich auch die starke Polarisierung, die von der Türkei aus vorangetrieben wurde. Wer mit Nein stimmen wollte, wurde als Vaterlandsverräter oder sogar als Terrorist deklariert. Für diese Polarisierung hat zum Beispiel die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die als Auslandsorganisation der Regierungspartei AKP gilt, geschickt ihre Organisationsstrukturen und finanziellen Mittel genutzt. Aber auch Erfahrungen mit Diskriminierung, die Türken in Deutschland immer noch machen, haben wohl eine Rolle gespielt. Für einige von ihnen war die Abstimmung zum türkischen Präsidialsystem sicherlich auch eine Art Protestwahl.
Warum hat sich die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) anders positioniert? Sie haben im Vorfeld des Verfassungsreferendums für ein Nein geworben.
Wir haben den Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 entschieden verurteilt und ausdrücklich begrüßt, dass das Volk gegen die Putschisten aufgestanden ist. Wir haben an Präsident Erdoğan appelliert, dieses starke Engagement der Menschen zu nutzen und einen Demokratisierungsprozess voranzutreiben. Passiert ist das Gegenteil: Erdoğan hat den gescheiterten Putschversuch dazu genutzt, sein Machtmonopol auszuweiten. Der Ausgang des Verfassungsreferendums bedeutet die akute Gefahr, dass dieses Machtmonopol festgeschrieben und zudem von einem Präsidenten genutzt werden kann, der nach der Reform wieder einer Partei angehören darf. Wir haben uns klar dagegen positioniert, weil wir für eine demokratische, pluralistische Türkei eintreten – natürlich auch nach dem Ausgang des Verfassungsreferendums. Wir sehen die Türkei als Mitglied der europäischen Familie. Umso autokratischer die Türkei aber regiert wird, desto weiter entfernt sie sich von der Europäischen Union.
Welche Schwerpunkte wird die Türkische Gemeinde in Deutschland in den kommenden Monaten setzen?
Wir möchten an den Herausforderungen und Problemen arbeiten, die die Deutschtürken beschäftigen. Das betrifft zum Beispiel die angesprochenen Diskriminierungen, etwa wenn junge Deutschtürken bei ihren Bewerbungen um Arbeitsplätze von Firmen benachteiligt werden. Wir werden Alltagsprobleme angehen, die Menschen mit und ohne Migrationshintergrund betreffen – und uns zum Beispiel Fragen der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik widmen. Natürlich in Zusammenarbeit mit den Parteien und mit Blick auf die Bundestagswahl im September 2017. Die türkische Community in Deutschland lässt sich schnell spalten, wenn es um Fragen der türkischen Innenpolitik geht. Wir wollen grundsätzlich aber wegkommen von Diskussionen um die Politik in der Türkei und uns stattdessen mit Deutschlands Zukunft beschäftigen.
Dennoch betrifft Sie auch aktuell ein Thema der türkischen Politik: Die von Präsident Erdoğan beförderte Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe – und die Frage, ob auch darüber von Türken in Deutschland abgestimmt werden sollte.
Das Lebensrecht ist ein Menschenrecht, das man nicht zur Abstimmung stellen sollte. Die Todesstrafe wurde von der Türkei und den europäischen Ländern in der Vergangenheit zurecht abgeschafft – diesen zivilisatorischen Gewinn sollte man nun nicht auch noch in diesen Ländern in Frage stellen. Das wäre ein Missbrauch der europäischen Öffentlichkeit. Die Türkische Gemeinde in Deutschland begrüßt es ausdrücklich, dass die Bundesregierung ein solches türkisches Referendum in Deutschland ablehnt.
Interview: Johannes Göbel
„Deutsche Stimme für türkische Autoren“
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