Flucht verstehen lernen
Ein von der Universität Oldenburg koordinierter Masterstudiengang untersucht gemeinsam mit europäischen und afrikanischen Partnern weltweite Migrationsbewegungen.
Rueben Okine sitzt immer noch oft und gerne in der Bibliothek der Oldenburger Universität. Oldenburg im Norden Deutschlands ist die erste deutsche Stadt überhaupt, die er kennengelernt hat. „Das Wetter ist so naja, aber man kann in Deutschland gut essen und kochen, und ich habe viele tolle Menschen kennengelernt“, sagt der Migrationsexperte und passionierte Hobbykoch.
In Oldenburg hat Okine kürzlich sein Masterstudium abgeschlossen – das ihn weit über die Grenzen Deutschlands hinausführte. Der 34-Jährige aus Ghanas Hauptstadt Accra hatte nach seinem Psychologiestudium zuerst für die Regierung Ghanas gearbeitet. Immer wieder sah er sich dabei mit den komplexen Hintergründen von Migration und Diaspora konfrontiert. Welche Konsequenzen hat es beispielsweise für Gesellschaft und Politik, dass Exil-Ghanaer sich nicht an Wahlen in ihrer Heimat beteiligen können, fragte er sich. „Ich stellte schnell fest, dass ich mehr wissen wollte über die politischen Aspekte von Flucht, Chancengleichheit, Friedensbildung“, sagt er.
Wenig Bildung, kaum Perspektiven
Migration, das ist ein großes Thema in Okines Heimat. Arbeitslosigkeit und Armut sind groß. Etwa ein Viertel der Bevölkerung lebte 2014 laut Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge unterhalb der Armutsgrenze. „Viele, vor allem junge Menschen, verlassen Ghana. Sie sehen keine Chance, weil Schule und Bildung keine Selbstverständlichkeit sind“, sagt Okine. Die Folge: Sechs bis elf Prozent der Ghanaer leben laut Schätzungen der International Organisation for Migration nicht in ihrem Herkunftsland.
Chancenlosigkeit, Elend und Unterdrückung sind es, die viele Menschen aus Afrika auch nach Europa und Deutschland treiben. Doch die weltweit meisten Flüchtlinge leben in Afrika selbst. Allein in Nigeria halten sich mehr als 2,5 Millionen Flüchtlinge auf, in der Demokratischen Republik Kongo sind es 1,5 Millionen.
Um die Hintergründe all dessen besser zu verstehen, bewarb sich Okine an der Universität Oldenburg, wo er mit 25, zum Teil mit Stipendien der Europäischen Union geförderten Kommilitonen aus der ganzen Welt, 2014 sein Studium des European Master in Migration and Intercultural Relations (EMMIR) begann.
Mehr Mobilität für mehr Verständnis
EMMIR, 2011 als erster europäisch-afrikanischer Masterstudiengang gestartet und von der Universität Oldenburg koordiniert, untersucht weltweite Migrationsbewegungen und bringt dazu Hochschulen aus dem Sudan, Uganda und Südafrika, Slowenien, Tschechien, Norwegen und Deutschland zusammen. Am Ende der vier Semester stellen sie ein gemeinsames Zeugnis aus, erzählt Jan Kühnemund, Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Oldenburg. Dass der Master nun weitere fünf Jahre mit bis zu 2,9 Millionen Euro von Exzellenzprogramm Erasmus Mundus der Europäischen Union gefördert wird, freut ihn sehr. „Hier übt man sich schließlich in einer echten Internationalisierung des Studiums“, sagt Kühnemund.
Große Mobilität der Studierenden durch internationale Kooperationen von Hochschulen und Nichtregierungsorganisationen und ein fächerübergreifender Ansatz für mehr gegenseitiges Verständnis: So lauten die großen Ziele von EMMIR. Die Studierenden bekommen zudem schnell praktische Aufgaben. Okine besuchte in Norwegen eine Aufnahmestelle für Flüchtlinge, absolvierte ein Praktikum beim African Diaspora Policy Center – einer Nichtregierungsorganisation (NGO) in den Niederlanden – , unterstützte in Slowenien als humanitärer Helfer zwei Monate lang Flüchtlinge, die versuchten, von dort nach Österreich weiterzukommen. „Manchmal habe ich dort die ganze Nacht durchgearbeitet“, erinnert er sich. „Aber wenn jemand im Büro über das Schicksal von Flüchtlingen entscheidet, ist die vorherige Feldarbeit enorm wichtig, um die Motivation und die Hintergründe besser zu verstehen.“
Viel praktische Erfahrung
Jan Kühnemund bestätigt das. „Wir versuchen, die akademische Blase schnell anzupieksen und die Studierenden an die echte Lebenswelt heranzuführen.“ Darum starten die Studierenden in Oldenburg, wechseln für das zweite Semester an die Universität Stavanger in Norwegen, setzen je nach Interessenschwerpunkt das Studium an den Partnerunis in Slowenien, der Tschechischen Republik, Norwegen, Deutschland, Uganda, im Sudan und in Südafrika fort und absolvieren dann ein Praktikum bei assoziierten NGOs und Organisationen.
Mit rund 50 Organisationen sei EMMIR inzwischen in Kontakt, sagt Kühnemund. Etwa die Hälfte davon sitzt in Afrika. „Viele NGOs sind sehr angetan von den Praktikanten, die von uns kommen – auch, weil sie von den jungen Leuten neue Denkanstöße bekommen“, meint er.
Okine erwägt an einem der Projekte mitzuarbeiten, die er kennengelernt hat. Aber wohin sein Weg ihn auch führen werde, seine Erfahrungen – im praktisch-politischen und akademischen Kontext, aber auch mit den Kommilitonen – seien kostbar, sagt er. „Am Wochenende zusammensitzen, Fußball schauen, über Gott, die Welt, Politik und die eigene Heimat sprechen – „das bringt Wissen, das man nicht aus Büchern lernen kann.“