„Internationale Agenda der heutigen Zeit“
Armut, Migration, Klimawandel – die Brandt-Kommission forderte schon vor 40 Jahren Antworten. Lange ohne Erfolg. Interview mit Außenminister Sigmar Gabriel.
Willy Brandt ahnte selbst, dass dieser Bericht erst mal „in der Schublade“ verschwinden würde: Vor 40 Jahren veröffentlichte die unter seinem Vorsitz arbeitende Nord-Süd-Kommission einen Report zur globalen Entwicklung. Es dauerte, bis der Weitblick dieser Politiker, Publizisten und Wissenschaftler aus Industrie- und Entwicklungsländern gewürdigt wurde und Eingang in konkrete Politik fand. Wie aktuell der Bericht bis heute ist, zeigte die Konferenz #Brandt2030 des Auswärtigen Amts mit internationalen Experten und Vertretern der Zivilgesellschaft. Ein Interview mit Außenminister Sigmar Gabriel.
Herr Gabriel, der Brandt-Bericht gilt als visionär. Inwiefern war er das?
In dem Bericht finden sich Themen, die wir heute vermeintlich für neu halten: Migration, Klimawandel und Umweltschutz, das dramatische Bevölkerungswachstum in Afrika und Asien. Praktisch die gesamte internationale Agenda der heutigen Zeit konnte man schon damals erkennen. Das wird deutlich, wenn wir den Bericht heute lesen.
Oft heißt es, der Report habe eine Wende in der Entwicklungspolitik eingeleitet.
Entwicklungspolitik wurde erst durch den Bericht zu einem globalen und außenpolitischen Thema. Indem hochrangige Persönlichkeiten wie Willy Brandt sich dafür einsetzten, wurde klar, dass Entwicklung kein rein karitatives Anliegen ist, sondern ein zentraler Bereich der internationalen Politik, in dem Geld und politische Energie eingesetzt werden müssen.
40 Jahre später sind viele Entwicklungsländer weiter in einer schwierigen, wenn nicht noch schwierigeren Situation. Warum blieb so vieles aus dem Bericht unverwirklicht?
Es ist nicht einfach, aus guten Erkenntnissen auch gute Politik zu machen. Außenpolitik ist oft krisengetrieben. Häufig müssen Themen erst in den Schlagzeilen auftauchen, damit sie angepackt werden. Tatsächlich ist es nicht gelungen, in den 40 Jahren seit Veröffentlichung des Berichts eine Schubumkehr in der internationalen Politik zu erreichen. Doch wir sind weitergekommen – es gab Zwischenschritte wie den Brundtland-Bericht von 1987, der Nachhaltigkeit als Entwicklungsziel festlegte. Das ist in den Köpfen angekommen, aber noch nicht überall gleichermaßen im Handeln.
Der Brandt-Bericht nannte selbst schon mögliche Ursachen dafür: Es fehle an politischem Willen, der Realität ins Gesicht zu sehen. Trifft das Ihrer Ansicht nach zu?
Politische Entscheidungen basieren auf schwierigen Abwägungen. Selbst wenn man Erkenntnisse darüber hat, was man tun müsste, gibt es immer andere Überlegungen, die damit in Konflikt stehen. Das war auch Thema der Konferenz: Natürlich wäre es vernünftig, wenn etwa Arbeiter in Indonesien nicht weiter Kohle abbauen oder Regenwälder abholzen. Damit werden Umweltgifte zu Tage gefördert, es entsteht CO2 und Böden erodieren. Andererseits haben dieser Staat und seine Bevölkerung ein legitimes Interesse, zu überleben und wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Zwischen diesen Perspektiven muss man abwägen. Man sollte sich dabei aber auch bewusst sein, was auf dem Spiel steht. Darauf hat die Brandt-Kommission hingewirkt.
Der Titel der Konferenz des Auswärtigen Amts lautete „Von der Brandt-Kommission zur Agenda 2030“. Welche Botschaften aus dem Bericht finden sich in den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen?
Dass man die nachhaltige Entwicklung ins Zentrum nationalstaatlichen Handelns stellen muss. Dass sich Prioritäten ändern müssen, weil das Überleben des Planeten von zentraler Bedeutung ist. Dass Frieden eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, Entwicklung und Wohlstand für alle zu ermöglichen. Diese Aufgaben sind in der Agenda 2030 verankert und sie werden in immer mehr Ländern zur Regierungspolitik, auch in Deutschland.
Was nehmen Sie aus der Konferenz vor allem mit?
Die Frage, welche Schwerpunkte man setzt. Ob man nur am nationalen Wohlstand hier und heute arbeitet oder am Überleben des Planeten – und dafür vielleicht eigene Interessen zurückstellt. Letzteres kann man nicht von oben herab bestimmen. Die Menschen müssen überzeugt sein, dass es zu ihrem eigenen Wohl ist. Dafür müssen wir uns täglich einsetzen und uns in einer fairen und verständnisvollen Diskussion engagieren.
Interview: Helen Sibum