„Wir alle möchten gehört werden“
Open Governance – das Internet ermöglicht das Mitregieren für alle Menschen, sagt Beth Simone Noveck.
Wie können Bürgerinnen und Bürger mitregieren, indem sie ihre Wünsche, Ideen und ihr Wissen einbringen? Und wie können Staats- und Regierungschefs Big Data nutzen, um ihre Arbeit transparenter zu machen und Korruption vorzubeugen? Beth Simone Noveck, Jura-Professorin und Leiterin des GovLab-Forschungszentrums in New York, berät Regierungen weltweit zu Open Governance – zum Beispiel US-Präsident Barack Obama während seiner Amtszeit und seit 2018 die Bundesregierung. Im Interview spricht sie über diese Demokratie der kleinen Schritte und die Chancen und Herausforderungen des deutschen Digitalrats.
Frau Professor Noveck, zu Beginn des Jahrtausends waren Sie eine der ersten, die eine Open Governance-Revolution angekündigt hat. Woher kommt Ihr Interesse für das Thema?
Bevor ich Juristin wurde, habe ich in Innsbruck in Politikwissenschaften und deutscher Literatur promoviert. Ich beschäftigte mich damit, warum einige politische Institutionen in Deutschland und Österreich dem Nationalsozialismus standhielten und ihm andere anheimfielen. Als Digital Native der ersten Generation habe ich diese Frage später auf unsere Zeit übertragen: Wie können das Internet und neue Technologien dabei helfen, unsere Demokratien zu stärken?
Sollte es für demokratische Regierungen nicht selbstverständlich sein, ihre eigenen Bürger um Rat und Input zu bitten?
Wir hingen lange Zeit dem Ideal einer unabhängigen, leidenschaftslosen Bürokratie an, in der Beamte Entscheidungen im Namen der Gesellschaft treffen. So haben wir es geschafft, die weitverbreitete Korruption früherer Jahrhunderte loszuwerden. Allerdings ist die Bürokratie als Regierungsprinzip mittlerweile veraltet – schließlich hat im 21. Jahrhundert jeder gleichermaßen Zugang zu Informationen, und Fachwissen zu gesellschaftlichen Problemen und möglichen Lösungen ist weit verbreitet und sicherlich nicht auf Beamte beschränkt. Diese radikalen Veränderungen müssen sich auch in der Art und Weise widerspiegeln, wie wir regieren.
Nachdem sie so lange aus der Ferne regiert wurden, fühlen sich viele Bürgerinnen und Bürger entfremdet oder misstrauen ihrer Regierung sogar, wie der Aufstieg rechter Parteien in ganz Europa zeigt. Wie können Regierungen das Vertrauen wiederherstellen und Menschen zum Mitmachen bewegen?
Die Herausforderung besteht darin, dass Open Governance noch relativ neu ist. Wir müssen viele Möglichkeiten finden, um Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen – und zwar regelmäßig und nicht nur als einmaliges Experiment. Mit der Zeit werden sie verstehen, dass Regierungen nicht nur ihren Rat einholen, sondern diesen zum Teil auch umsetzen. Ingenieure, Wissenschaftlerinnen, Ärzte und praktisch begabte Bürgerinnen haben zum Beispiel an den Ideenwettbewerben der Crowdsourcing-Website der US-Regierung challenge.gov teilgenommen. Solche gewöhnlichen Menschen mit außergewöhnlichen Talenten können Regierungen helfen, Lösungen zu finden, auf die ihre eigenen Beamten nicht kommen würden.
Wie kann sichergestellt werden, dass sich die unterschiedlichsten Menschen in Open-Governance-Initiativen einbringen – und nicht nur diejenigen, die ohnehin privilegiert sind?
Das ist eine entscheidende Frage für uns. Wenn wir nur Freiwillige auf digitalen Plattformen ansprechen, bekommen wir eine sehr unausgewogene Perspektive. Als Estland seine Bürger nach einer Korruptionsserie beispielsweise aufforderte, Vorschläge zur Reform des politischen Systems zu erarbeiten, meldeten sich online überwiegend Männer mittleren Alters. Daher kombinierte die Regierung dies mit einer Offline-Übung, bei der sie eine Jury aus Bürgern auswählte, die das ganze Spektrum der estnischen Bevölkerung repräsentierten. Um Legitimität zu gewährleisten, müssen wir Gruppen, die sonst nicht teilnehmen würden, aktiv ansprechen.
Werden Teilnehmerinnen und Teilnehmer für ihren Zeitaufwand entschädigt oder ist das Mitregieren ehrenamtlich? Das könnte Menschen in prekären Situationen ja wieder abschrecken.
Die meisten dieser Bürgerbeteiligungen sind nicht sehr zeitaufwändig und werden daher nicht vergütet. Trotzdem engagieren sich auf Crowd-Law-Plattformen wie Barcelonas Decidim-Webforum oder Better Reykjavík sehr viele Menschen: Auf letzterer arbeiten 20 Prozent der Stadtbewohner zusammen daran, städtische Probleme zu lösen. Neue Technologien haben es für ganz normale Menschen billiger, schneller und einfacher gemacht, eine aktive Rolle im öffentlichen Leben zu spielen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel bat Sie 2018, Mitglied des deutschen Digitalrats zu werden. Warum haben Sie entschieden, das Ehrenamt anzunehmen – zusätzlich zu Ihren vielen anderen Aufgaben?
Es ist mir eine große Ehre, meine Erfahrung zum Wohle der deutschen Öffentlichkeit zu teilen. Ich bin auch Bürgerin eines Landes, und wir alle möchten, dass unsere Ideen gehört werden. Im Gegensatz zu vielen anderen Institutionen, mit denen ich zusammenarbeite, hat die Bundesregierung ihr Interesse bekundet, nicht nur einen Bericht zu veröffentlichen, sondern etliche Ideen direkt umzusetzen. Auch die Tatsache, dass Spitzenpolitiker an vielen unserer Treffen teilnehmen, zeigt mir, dass das Thema ernst genommen wird.
Wie ist es, mit Bundeskanzlerin Merkel zu arbeiten?
Sie ist beeindruckend! Ich habe den größten Respekt vor ihr als Lenkerin und Visionärin. Und umgekehrt schenkt sie uns auch großen Respekt und Aufmerksamkeit. Ich war schon mit vielen Führungskräften – und Nicht-Führungskräften – in einem Raum, die nach 30 Sekunden anfingen, ihre E-Mails zu checken und zwar höflich nickten, aber nicht wirklich zuhörten. Frau Merkel ist das Gegenteil: Sie stellt harte, ernsthafte Fragen, um unsere Diskussionen über die Rolle der digitalen Technologien für Politik und Gesellschaft zu prüfen und zu verstehen.
Warum tagt ausgerechnet der Digitalrat, der sich für mehr Transparenz einsetzt, hinter verschlossenen Türen?
Für Open Governance zu sein, bedeutet nicht, dass jedes Meeting online übertragen werden muss. Indem wir die Türen schließen, geben wir Politikern zum Beispiel die Möglichkeit einzugestehen, dass sie noch nicht mit allem vertraut sind. Das Ziel, die Regierung zu öffnen ist mit einem großen Kulturwandel verbunden, der einfach Zeit braucht. Unser Rat ist trotzdem transparent und inklusiv: Als wir beispielsweise 2018 mit unserer Arbeit begannen, drängten wir die Bundesregierung, die KI-Strategie vor ihrer Verabschiedung für Inputs von außen zu öffnen. Und natürlich teilen wir die Ergebnisse unserer Arbeit öffentlich und nehmen regelmäßig an Konferenzen wie dem Internet Governance Forum teil.
Barack Obamas Open-Government-Initiative, die Sie geleitet haben, wurde von der Trump-Regierung eingestellt. Wie transparent und kooperativ ist die derzeitige US-Regierung? Und was können Bürger tun, wenn ihre Regierung sie nicht beteiligen will?
Obwohl Open Governance für die momentane US-Regierung keine Priorität hat, arbeiten immer noch viele Befürworter von Transparenz und Bürgerbeteiligung auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. Wir hören jedoch nicht mehr viel über ihre Initiativen, da der tägliche Nachrichtenzyklus die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich hoffe, dass wir mit einem Regierungswechsel wieder auf Kurs kommen.
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