„Freiheit ist nicht selbstverständlich“
An der Hand ihres Vaters, vorbei an brennenden Synagogen – Charlotte Knobloch erzählt im Interview, wie sie die Pogromnacht erlebt hat.
Der 10. November 1938. Der Tag danach. Die sechsjährige Charlotte Knobloch steht vor der ausgebrannten Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße in München. Sie weint, sie hat Angst, fühlt sich hilflos. Am 9. November 1938 haben die Nationalsozialisten dazu aufgerufen, jüdische Geschäfte und Synagogen zu zerstören. Bereits in der folgenden Nacht gehen in Deutschland Synagogen in Flammen auf. Läden werden ausgeraubt und Juden gedemütigt, verschleppt oder ermordet. Die Judenverfolgung während der NS-Zeit erreicht mit der „Reichspogromnacht“ eine neue Dimension.
Charlotte Knobloch war drei Monate alt, als Hitler an die Macht kam. Heute ist sie eine bekannte Vertreterin der Juden und Jüdinnen in Deutschland. Seit mehr als 35 Jahren kämpft sie für Verständigung, für ein friedliches Miteinander und gegen Antisemitismus – aktuell als Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in München und Oberbayern und von 2006 bis 2010 als Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie war die erste Frau in diesem Amt.
Knobloch hat den Nazi-Terror in der Pogromnacht als Kind miterlebt. Die Erlebnisse prägen sie bis heute. Im Interview mit deutschland.de erklärt sie, warum „Nie wieder“ niemals nur ein leeres Wort sein darf.
Frau Knobloch, wie haben Sie den 9. November 1938 erlebt?
Wir haben unsere Wohnung in München verlassen und sind zunächst ziellos umhergewandert. Meinem Vater war es zuhause zu gefährlich, auch in seine Kanzlei wollte er nicht. Er befürchtete, dass die Nazis ihm dort auflauern würden. Sein Verdacht bestätigte sich, als er von einer Telefonzelle aus im Büro anrief und nach sich selbst fragte. Wir irrten stundenlang durch München. Irgendwann sind wir schließlich bei Freunden in einer kleinen Gemeinde außerhalb der Stadt angekommen. Dort konnten wir übernachten.
Wie gehen Sie heute mit diesen Erinnerungen um?
Ein Ereignis wie der 9. November 1938 prägt sich ein – besonders wenn man es durch Kinderaugen gesehen hat. Bis heute erinnere ich mich, wie ich am nächsten Tag vor der ausgebrannten Ruine der Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße stand. Ich weinte bitterlich. Auch meine Schule nebenan war zerstört worden. Für mich als Erstklässlerin war das unvorstellbar. Die Angst, die Hilflosigkeit, die Unsicherheit waren entsetzlich. Diese schrecklichen Erinnerungen bin ich bis heute nicht losgeworden.
Ich erinnere mich aber auch an die Hilfe, die uns fremde Menschen zukommen ließen, und an die Stärke meines Vaters. Wer den November 1938 erlebt hat, für den kann „Nie wieder“ niemals nur ein leeres Wort bleiben.
Momentan werden wieder Stimmen laut, die einen „Schlussstrich“ unter die deutsche Erinnerungskultur ziehen wollen. Welchen Wert hat kollektives Erinnern für die Gesellschaft?
Eine Gesellschaft, die sich nicht bewusst ist, wo sie herkommt, kann ihre Zukunft nicht gestalten. Gedenken soll natürlich kein leeres Ritual werden. Die Erinnerung soll uns bewusst machen, was wir erreicht haben und warum wir unsere Errungenschaften bewahren müssen. Das wird umso wichtiger, wenn die letzten Zeitzeugen abtreten.
Gerade weil es nicht mehr viele Zeitzeugen gibt, erscheinen die Gräueltaten der Nationalsozialisten vielen jungen Menschen weit weg, abstrakt und dadurch unwirklich. Wie erreicht man die junge Generation?
Drei Dinge sind aus meiner Sicht entscheidend. Erstens müssen junge Leute über das Geschehen von damals aufgeklärt werden – damit meine ich Faktenwissen. Wer nicht weiß, was passiert ist, für den liegt Gleichgültigkeit nahe.
Da Wissen aber oft abstrakt ist, braucht es zweitens einen persönlicher Bezug. Beispielsweise durch Besuche in KZ-Gedenkstätten. Bei manchen Menschen funktioniert dieser Weg aber nicht. Jeden berührt etwas anderes. Wenn sie einem Siebtklässler erklären, dass jüdische Menschen damals ihre Haustiere abgeben mussten, ist das noch kein Besuch in Dachau, aber viele beginnen so die Tragweite der Entrechtung zu verstehen.
Und was ist der dritte Punkt ?
Drittens muss daraus eine Verantwortung erwachsen. Niemand aus der heutigen Generation trägt Schuld. Die Kinder und Jugendlichen sollten aber verstehen: Euer Leben in Freiheit und Demokratie ist nicht selbstverständlich. Ihr werdet es ständig verteidigen müssen – besonders gegen jene, die das Gedenken an die NS-Zeit infrage stellen.
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