Die Stimmen der Europäischen Union
Den Wert der EU durch Zeitzeugengespräche erlebbar machen: Schriftstellerin Nora Bossong über das Konzept des Archivs der Stimmen.
Das „Europäische Archiv der Stimmen“ will Geschichte bewahren und den Wert der Europäischen Union durch Zeitzeugengespräche erlebbar machen. Im Interview erzählt Schriftstellerin und Gründerin Nora Bossong wie es dazu kam – und warum das Archiv gerade jetzt besonders wichtig ist.
Frau Bossong, warum haben Sie das „Europäische Archiv der Stimmen“ mit ins Leben gerufen?
Dem Archiv geht der Verein „Arbeit an Europa“ voraus, den Simon Strauß und ich direkt nach dem Brexit-Referendum, fassungslos über diese Entscheidung, gegründet haben. Wir wollten damit junge Europäerinnen und Europäer miteinander ins Gespräch über Europa bringen. Dabei merkten wir, dass das Friedensversprechen der Europäischen Union zunehmend verloren geht, weil die jüngere Generation immer weniger Bezug dazu hat. Das Archiv der Stimmen versucht, Großeltern- und Enkelgeneration zusammenzubringen, um die Geschichte zu bewahren und erlebbar zu machen – und die Dringlichkeit der Europäischen Union zu unterstreichen.
50 junge Europäerinnen und Europäer kommen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus ihren Heimatländern ins Gespräch über die EU. Die meisten sprechen sich für den großen Wert der EU aus – doch es gibt auch kritische Stimmen.
Wir wollten zunächst einmal sammeln und damit ein möglichst breites politisches Spektrum abbilden. Ich glaube nicht, dass allein die Wohlstandsversprechen wie Mobilität und Freizügigkeit der Europäischen Union noch ausreichen. Wir sehen eine tiefe Krise der EU, nationalistische Stimmen werden lauter. Aber wenn wir Geschichte erlebbarer machen, wird uns deutlich, wie groß der Verlust wäre, wenn wir das Projekt EU in den Sand setzen. Wir müssen wieder sehen, welchen Wert das Friedensversprechen der EU hat.
Ich freue mich über jede Stimme, die sich begeistert über die EU äußert. Aber es ist auch wichtig, die Kritiker zu hören. Diese Vielschichtigkeit gibt einen authentischeren Blick auf die EU wieder. Die kritischen Stimmen sind da – und indem wir sie aufnehmen, bieten wir auch die Möglichkeit, in angemessener Auseinandersetzung und Geschwindigkeit darauf zu reagieren.
Wie hat die Corona-Pandemie den Blick auf Europa verändert?
Am Anfang hat die Pandemie zu großem Nationalismus geführt – das war kein Meisterstück, keine gute Werbung für die EU. Corona könnte die Herausforderung schlechthin sein, weil Europa daran scheitern könnte – wenn es uns nicht gelingt, wieder ein Miteinander zu erzeugen. Diese Situation zeigt die Dringlichkeit, über die Europäische Union als Hoffnungsträgerin zu sprechen.
Unter den Gesprächspartnern beim Archiv der Stimmen sind Kulturschaffende und wichtige Stimmen des politischen Diskurses. Wer hat sie am meisten beeindruckt?
Die inzwischen gestorbene Theaterkritikerin Irena Veisaitė aus Litauen, eine von wenigen litauischen Holocaust-Überlebenden. Sie formuliert sehr eindrücklich; bei ihr wird Geschichte tatsächlich erlebbar. So nennt sie beispielsweise ihren Heimatort Kaunas einen „Ort der Schatten“ unter der Nazi-Okkupation. Hier kommt einem Geschichte wirklich nah. Irena Veisaitė hat aus der Erfahrung ihrer eigenen Kindheit einen besonderen Blick auf Gefahren des Nationalismus sowie die Möglichkeiten und Grenzen von Freiheitsversprechen. Man sieht an ihr beispielhaft, wie geschichtliche Erfahrung und das Verständnis der Gegenwart ineinandergreifen.
Nora Bossong, geboren 1982 in Bremen, ist Schriftstellerin. Sie war 2019 für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde unter anderem mit dem Peter-Huchel-Preis, dem Kunstpreis Berlin, dem Roswitha-Preis und dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet. Sie engagiert sich für Austausch in Europa und eine Frauenquote in Deutschland.
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