„Vergangenheit ist ein Mosaik“
Der Archäologe Andreas Schachner spricht über herausragende Funde in der früheren Hethiter-Hauptstadt Hattuscha und seine langjährige Arbeit in der Türkei.
Der Archäologe Andreas Schachner lebt seit 2005 in der Türkei. Er arbeitet am Deutschen Archäologischen Institut (DAI) in Istanbul und lehrt zugleich an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Sein Spezialgebiet ist die antike Hochkultur der Hethiter. Rund 170 Kilometer östlich von Ankara, nahe dem türkischen Ort Boğazkale, leitet er die Ausgrabungen der alten Hethiter-Hauptstadt Hattuscha. In jüngster Zeit wurden dort drei spektakuläre Funde gemacht.
Herr Professor Schachner, mit der Entdeckung eines Elfenbeinschmuckstücks, Inschriften in einem Tunnel und einer Tontafel mit einer bisher nicht bekannten Sprache haben die von Ihnen geleiteten Ausgrabungen am Unesco-Weltkulturerbe Boğazköy-Hattuşa zuletzt für Schlagzeilen gesorgt. Wie ordnen Sie diese Funde ein?
Gleich drei spektakuläre Funde hintereinander an einem Ort, wo seit dem Jahr 1906 systematisch geforscht wird, waren so nicht zu erwarten. Deshalb freuen sie mich natürlich sehr. Zugleich hebe ich persönlich ungern Einzelfunde hervor. Die Vergangenheit ist ein Mosaik, und man versteht eine kulturelle Entwicklung nur im Gesamtzusammenhang. Für mich ist also das Spannendste, wie man ein Objekt in den Kontext einordnen kann. Auch mit vermeintlich einfachen Funden wie Tierknochen oder botanischen Überresten öffnen sich neue Fenster zum wirtschaftlichen oder sozialen Hintergrund des Lebens von Menschen, die sonst im Dunkeln blieben.
Welche Fenster in das Leben der Hethiter öffnen die neueren Funde?
Dieses wenige Millimeter dicke Elfenbeinpanel zum Beispiel hat eine markante Ikonografie: eine szenische Darstellung aus Sphinx, Löwe und Lebensbaum, wie sie für den ägäischen Kulturraum typisch ist. Doch wie kommt der Schmuck hierher außer über den Kontakt zwischen Menschen? Der Fund erzählt uns etwas über den Austausch der königlichen Eliten verschiedener Regionen des östlichen Mittelmeerraumes. Für das zentrale Anatolien haben wir jetzt einen Fund, der unser Wissen aus Texten untermauert: Zweifelsfrei können wir von einer Verbindung zwischen dem Großreich der Hethiter und dem westlichen Kulturraum der Ägäis ausgehen.
Die Tontafel mit Keilschrift wiederum, die wir 2023 im topografischen Zentrum von Hattuscha gefunden haben, ist so besonders, weil schon am Duktus des Textes klar wurde, dass wir den Nachweis einer bisher unbekannten indogermanischen Sprache in den Händen hielten. Hier bekam ein Schreiber Silbe für Silbe einen Ritualtext in der „Sprache von Kalašma“ diktiert, die er offenbar selbst auch nicht kannte. Für die Sprachwissenschaft ergeben sich nun ganz neue Aspekte.
Was erzählt Ihnen das „Graffito“ in einem Tunnel unter der Stadtmauer?
Der Fund ist deshalb so erstaunlich, weil dieser sehr enge, 80 Meter lange Tunnel schon seit dem Jahr 1834 bekannt ist. Bauern und Hirten haben hier ihre Tiere untergestellt. Aber gerade weil er so eng und dunkel ist, hat man die stark verblassten und mit Erdfarbe an die Wände gemalten 249 Kurzinschriften in anatolischen Hieroglyphen auch bei der Restaurierung nicht gesehen – bis sie ein türkischer Kollege 2023 entdeckt hat.
Es handelt sich um Bauinschriften, die uns völlig neue Einsichten in die Verwendung von Schrift bei den Hethitern eröffnen. Die Keilschrift der Hethiter ist ein „Top-down-Phänomen“ und wahrscheinlich stark auf die Elite und die Verwaltung des Reiches beschränkt gewesen. Auch Hieroglyphen kannten wir bisher nur von Inschriften auf Siegeln oder Monumenten. Aber offenbar spielten sie auch im Alltag von weniger privilegierten Menschen eine Rolle.
Die Grabungsstätte liegt in einer ländlichen Gegend Anatoliens, aus der auch viele Arbeitskräfte stammen, die an den Ausgrabungen beteiligt sind. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit von internationalen Forschenden und der lokalen Gesellschaft?
In Boğazkale ist das Deutsche Archäologische Institut (DAI) ein wichtiger Arbeitgeber. Etwa 100 bis 120 Menschen stellen wir pro Jahr an. Am wichtigsten ist für mich dabei der gute Umgang miteinander. Ich persönlich bin während der Grabungen bis zu vier Monate vor Ort und dann wesentlicher Bestandteil der Dorfgemeinschaft. Dabei hilft mir, dass ich die Sprache fließend spreche und mit einer Türkin verheiratet und gut in die Gesellschaft integriert bin. Auch für die vielen internationalen Gäste aus der Wissenschaft, die hier graben und forschen, ist kulturelle Verständigung und Integration entscheidend. Das DAI erfährt im Land durch seine langjährige Arbeit nicht nur auf fachlicher Ebene hohe Wertschätzung, sondern auch viel Gastfreundschaft.
Gesellschaftliches Zusammenleben ist für Sie also in Geschichte und Gegenwart interessant?
Ja, so ist es. Mir geht es in seiner historischen Tiefe um das Verhältnis der Menschen untereinander und das Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt. Der Archäologie wohnt, wie ich finde, ein hohes Potenzial für kulturelle Verständigung inne. Archäologinnen und Archäologen verbinden sich stärker mit den Kulturen, in denen sie arbeiten. Das liegt nicht nur am genuinen Interesse an den Lebensformen historischer Gesellschaften. Wir haben auch in der Regel das Glück, sehr jung nach unserem Studium in Gastländer zu kommen, in denen wir dann jeweils lange arbeiten und leben. Man ist in so jungen Jahren noch nicht voll sozialisiert und hat damit die Chance, sich viel stärker auf die Gepflogenheiten des Gastlandes einzulassen als zu einem späteren Zeitpunkt im Leben.
Im Rahmen der Arbeit des DAI am Unesco-Weltkulturerbe Boğazköy-Hattuşa wird auch internationaler wissenschaftlicher Nachwuchs ausgebildet. Was geben Sie dem mit?
Wir haben eine starke Ausbildungskomponente. Im Lauf der fast 18 Jahre, die ich hier arbeite, wurden eine ganze Reihe Master- und Doktorarbeiten türkischer und anderer internationaler Kolleginnen und Kollegen betreut. Wir fördern den Nachwuchs in der Archäologie auch, indem wir die jungen Leute an wichtigen Publikationen beteiligen.
Außerdem ist uns die Vermittlung sogenannter interkultureller Soft Skills sehr wichtig. Man kann sie nicht lehren wie beispielsweise das Wissen über hethitische Keramik. Jede und jeder muss sie sich in einem anderen Land aneignen, sich auf die Kultur einlassen und ein Gespür für einen guten Umgang miteinander entfalten. Das wird heute für junge Forscherinnen und Forscher, die im internationalen Kontext arbeiten, immer wichtiger.