Geschwister im Einsatz für Bildungschancen
Schon seit 20 Jahren ermöglicht das „Chancenwerk“ von Şerife Vural-Banik und Murat Vural benachteiligten Kindern und Jugendlichen Nachhilfe.
Alles begann mit einem Anruf vor 20 Jahren. „Bruder, wir müssen was tun“, so habe seine Schwester Şerife das Gespräch begonnen, berichtet Murat Vural. Damals habe sie Sozialpädagogik studiert und sich in ihrer Abschlussarbeit mit der Bildungssituation von Mädchen mit Migrationshintergrund in Deutschland befasst – und festgestellt, dass es Lücken im Bildungswesen gibt. Was aus der Idee seiner Schwester entstanden ist, erzählt Murat Vural immer noch mit begeisterter Stimme. Gemeinsam haben die Geschwister ein kleines ehrenamtliches Projekt zu einem inzwischen mehr als 100 Angestellte beschäftigenden Sozialunternehmen ausgebaut. „Chancenwerk ist eine hochprofessionelle Organisation, die zeigt, was möglich ist: benachteiligte Kinder mit Nachhilfe so zu unterstützen, dass sie ihre Schulabschlüsse schaffen und so bessere Bildungschancen haben“, betont Murat Vural.
Für sein integratives Engagement ist das Geschwisterpaar im Mai 2024 von der Helga und Edzard Reuter-Stiftung ausgezeichnet worden. Der mit 20.000 Euro dotierte Preis ist die jüngste von zahlreichen Würdigungen der Geschwister, die dem gemeinnützigen Verein Chancenwerk mit Sitz in der Ruhrgebietsstadt Castrop-Rauxel vorstehen.
Deutschlandweit gewachsene Bildungsorganisation
Murat Vurals Schwerpunkt liegt auf finanziellen Fragen, Şerife Vural-Banik kümmert sich vor allem um die inhaltliche Arbeit. Chancenwerk ist inzwischen an rund 120 Schulen in neun Bundesländern aktiv. Aktuell erhalten durch den Verein mehr als 7.000 Kinder und Jugendliche Nachhilfe. Die Hälfte der Schulen, an denen es Lerngruppen gibt, befindet sich in Nordrhein-Westfalen, die andere Hälfte verteilt sich in Großstädten zwischen Norden und Süden. Mal sind es Schulen, mal geldgebende Stiftungen, die sich zwecks Kooperation bei Chancenwerk melden. Derzeit wird Chancenwerk von rund 50 Partnern gefördert, darunter sind große Stiftungen und Unternehmen wie etwa Amazon, aber auch Privatpersonen. Mal sind es Millionenbeträge, mal fünfstellige Summen, mit denen die Arbeit des Vereins unterstützt wird.
Angefangen hat alles 2004 in einer Moschee. Dort bot das Geschwisterpaar türkeistämmigen Kindern Nachhilfeunterricht an. „Wir wussten aus eigener Erfahrung, wie sich mangelnde Deutschkenntnisse und die zuhause fehlende Unterstützung auswirken“, sagt Şerife Vural-Banik. Ihre Eltern kamen 1973 als Gastarbeiter nach Deutschland und waren sich nicht im Klaren darüber, wie wichtig der Besuch des Kindergartens und Deutschkenntnisse sind. Sie kamen in der Absicht, nach ein paar Jahren in die Türkei zurückzukehren und setzten diesen Plan 1984 um. Weil sich die Rückkehr in die Heimat doch nicht als die richtige Entscheidung erwies, kamen sie nach vier Jahren mit ihrer Tochter nach Deutschland zurück. Der Sohn blieb als Internatsschüler zunächst in Ankara und besuchte dort ein naturwissenschaftlich ausgerichtetes Gymnasium. Die Eltern holten ihn zu sich, als er 16 Jahre alt war. In Deutschland kam der Schüler einer türkischen Eliteschule auf die Hauptschule, machte trotz mangelnder Deutschkenntnisse einen sehr guten Abschluss, holte das Abitur mit der Note 2,2 nach und studierte erfolgreich Elektrotechnik.
Chancenwerk macht anderen Menschen Mut
Über Umwege gelangte auch Şerife zu ihrem Hochschulabschluss. Nach der Hauptschule machte sie zunächst eine Ausbildung zur Arzthelferin, holte parallel auf dem Abendkolleg ihr Abitur nach und studierte schließlich an der Fachhochschule in Bonn Sozialpädagogik. Während der ersten Semester habe sie sich sehr fremd gefühlt, weil es ihr an Wissen, auch über soziale Codes, gemangelt habe. Ihr Bruder Murat habe sie nicht nur beim Lernen unterstützt, sondern sie vor allem motiviert, nicht aufzugeben, erzählt sie. „Şerife, Du schaffst es“: ein Satz, mit dem er sie immer wieder ermutigt habe, an sich zu glauben. „Wir haben unseren Weg gefunden, auch weil es Menschen gab, die an uns geglaubt haben“, sagt Şerife Vural-Banik. Auch andere Jungen und Mädchen, die kaum oder keine Unterstützung im Elternhaus erhalten, sollen diese Erfahrung machen: So beschreibt sie ihr Motiv, sich in der Bildungsarbeit zu engagieren.
Ein Angebot für viele Schülerinnen und Schüler
Die Geschwister erzählen, dass sie sich anfänglich nur auf Kinder mit türkischem Migrationshintergrund fokussieren wollten. Doch diesen Plan verwarfen sie schon bald, erweiterten ihren Radius und organisierten mit Studierenden aus dem Freundes- und Bekanntenkreis Nachhilfe in Schulen – keinesfalls nur für Kinder zugewanderter Eltern. Eine Mitarbeiterin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands unterstützte sie bei der Vereinsgründung, 2006 bot die gemeinnützige Organisation Ashoka Murat Vural an, ihn mit einem Stipendium beim Aufbau eines Sozialunternehmens zu unterstützen. Dafür unterbrach er sein Promotionsvorhaben an der Universität und widmete sich „zu 100 Prozent der Arbeit fürs Chancenwerk“.
Ältere helfen den Jüngeren bei den Schulaufgaben
In gewisser Weise setzt Chancenwerk das um, was einst der ältere Bruder Murat mit der jüngeren Schwester praktiziert hat, als sie eine Schülerin mit mangelhaften Deutschkenntnissen und schlechten Noten war. Die Nachhilfe, die Chancenwerk direkt an den Schulen anbietet, erfolgt nach der so genannten „Lernkaskade“: Studierende unterstützen Jugendliche dabei, ihre Noten zu verbessern. Im Gegenzug helfen die älteren Schüler wiederum den jüngeren.
Im Lauf der Zeit kamen weitere Angebote hinzu – wie etwa kostenfrei zur Verfügung gestellte Lernhefte, die digitale Lernplattform ChancenCampus und jüngst das Programm „Leseadler und Schreibfüchse“, bei dem sich Lehramtsstudierende derzeit an Kooperationsschulen um Dritt- bis Sechstklässler mit Lese- und Schreibschwierigkeiten kümmern.
„Unsere Arbeit ist punktuell, aber effektiv“, sagt Murat Vural. Das weiß er, weil die Chancenwerk-Lernförderung an allen Partnerschulen evaluiert wird. An politischen Debatten über die Ursachen der Bildungsbenachteiligung will sich der Sozialunternehmer nicht beteiligen, ihm und seiner Schwester gehe es darum zu zeigen, „was möglich ist“. Was auf jeden Fall noch möglich ist, benennt er so: „Unser Angebot in die Breite bringen.“ Dafür brauche es Förderer, die er und seine Schwester auch weiterhin für das Chancenwerk gewinnen wollen.