Kleider, die Geschichten erzählen
Die Modedesignerin Bisrat Negassi floh als Kind mit ihrer Familie von Eritrea nach Hamburg. Im Interview erzählt sie von ihrem Leben und ihrer Arbeit.
Bisrat Negassi wurde Anfang der 1970er-Jahre in Asmara, der Hauptstadt von Eritrea, geboren. Als Kind floh sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie studierte Modedesign und gründete 2004 in Paris ihr Label Negassi. Sie ist Mitgründerin des Kulturraums M.Bassy und Leiterin der Sammlung Mode und Textil im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. 2022 erschien ihr Buch „Ich bin“ im Goldmann-Verlag.
Frau Negassi, was fasziniert Sie an Mode?
Mode erzählt viel über uns selbst und sie ist das Erste, was wir von unserem Gegenüber wahrnehmen. Sie ist eine Sprache, die visuell hörbar ist. Sobald ein Kleidungsstück in die Hände einer Person gerät, geht es in eine Geschichte ein. Mode ist nichts Starres, jeder Fleck, jede Falte erzählt etwas. Ob nun durch Kleidung, Make-up oder Frisur, wir haben, wenn wir es möchten, die unendliche Freiheit, uns immer wieder neu zu erfinden. Mode ist gleichzeitig auch ein System des Ein- und Ausschließens. Es trennt und kann Gesellschaften in Klassen unterteilen.
Inwiefern erzählt Ihre Mode auch Ihre persönliche Geschichte?
In meine Entwürfe fließen sicher Aspekte ein, die mich in dem Moment beschäftigen oder die mich mal beschäftigt haben. Wie auch meine Reisen und Erfahrungen, die mich prägten und zu der gemacht haben, die ich heute bin. Aber sobald ein Stück zu einer Kundin gelangt, schreibt sie ihre eigene Geschichte damit. Mode kann auch ein Schutzraum sein. So hatte ein Kleid mit Blumenmuster, das meine Mutter auf der Flucht trug, trotz der Umstände immer etwas Beschützendes für mich. Genauso ein Rüschenkleid, das ich als Kind hatte. Als Erwachsene ist es für mich eher die Farbe, Schwarz zum Beispiel, die mir Schutz bietet.
Seit Ende 2022 sind Sie Leiterin der Sammlung Mode und Textil im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Was sind Ihre Pläne?
Ab Sommer 2023 starte ich gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern, Studierenden und Kreativen aus Hamburg ein Rahmenprogramm zum Thema Nachhaltigkeit und Upcycling. Auch kulturelle Aneignung und kulturelle Wertschätzung, Kolonialismus und Rassismus sind Themen, die mir wichtig sind und die ich in Bezug auf Mode miteinander verknüpfen möchte. Ich plane auch Kooperationen mit Designerinnen und Designern mit afrikanischen Wurzeln. Ich finde, dass diese Arbeiten gesehen werden müssen, sie sind Teil der europäischen Designgeschichte.
Gibt es in der Sammlung Stücke aus kolonialen Kontexten?
Die Sammlung ist sehr groß und ich bin noch nicht lange genug dabei, um jedes Stück zu kennen. Es gibt aber eine Stelle für Provenienzforschung, die Nachforschungen zur Herkunft von Objekten anstellt. Kolonialismus ist ein Thema, das in Europa noch nicht aufgearbeitet ist und das wie ein Schatten über unserer Zeit liegt. Und solange die koloniale Vergangenheit nicht konsequent Teil des Schulunterrichts ist, werden die Zusammenhänge von Kolonialismus, Migration und strukturellem Rassismus nicht verstanden. Ich versuche, das Thema immer wieder in meine Arbeit einzubringen, auch bei M.Bassy.
M.Bassy ist ein Hamburger Kulturraum für Kreative aus Afrika und der Diaspora, den Sie 2016 mitgegründet haben und bei dem Sie auch Kuratorin sind. Wie kam es dazu?
Mir fehlte ein Raum für einen Austausch, der nicht einseitig und eurozentrisch ist. Inzwischen sind bei uns mehr als 70 Künstlerinnen und Künstler aus verschieden Ländern zu Gast gewesen. Zum Beispiel die fünffache Grammy-Gewinnerin Angélique Kidjo aus Benin. Oder der in New York lebende nigerianische Filmemacher Andrew Dosunmu. Bei M.Bassy haben wir Kunst, Literatur, Musik, aber auch Mode im Programm. Der Designer Lamine Kouyaté hinter dem Label Xuly.Bët, der bereits in den 1990er-Jahren auf Upcycling setzte, war bei uns. Sowie auch das Label Marché Noir, das mit Second-Hand-Kleidung arbeitet, die aus Frankreich als Altkleider nach Westafrika verschifft wird und die dann wieder zurück zum Ausgansort geholt wird. Nach dem Motto: „Ihr schickt es als Müll. Und ich verkaufe es euch als Schatz!“
Welche Rolle spielt das Thema Rassismus bei M.Bassy?
Rassismus ist eine schmerzliche Erfahrung. Es muss aufhören, Betroffene nach ihren Rassismus-Erfahrungen zu befragen! Menschen, die nicht davon betroffen sind, sollten über ihre eigenen Rassismus-Erfahrungen nachdenken: Wann sie sich das erste Mal bei rassistischen Gedanken ertappten und was sie dagegen unternommen haben. Betroffene können nichts ändern, es geht nur zusammen. Solche Gespräche führen wir auch bei M.Bassy, wo es darum geht, in einen Austausch mit Menschen zu kommen, die nicht betroffen sind.