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Geteilte Geschichte, gemeinsame Zukunft

Das kulturelle Erbe Europas zu bewahren und Menschen über Ländergrenzen hinaus zu verbinden: Das ist die Mission von Europa Nostra. 

Christina Pfänder, 13.12.2024
Adventsschmuck „Herrnhuter Stern“
Adventsschmuck „Herrnhuter Stern“ © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jürgen Löse

1620, der Dreißigjährige Krieg wütet in Europa. In der Schlacht am Weißen Berg in der Nähe von Prag siegen die katholischen Habsburger über die protestantischen Stände Böhmens. Zahlreiche Gläubige fliehen in den folgenden 100 Jahren aus den Gebieten der heutigen Tschechischen Republik. Unter ihnen viele Mitglieder der Böhmischen Brüder, die Anfang des 18. Jahrhunderts in der sächsischen Oberlausitz Zuflucht finden und die Stadt Herrnhut gründen. 

Seit 2024 gehört Herrnhut zu den UNESCO-Welterbestätten – gemeinsam mit dem bereits 2015 gewürdigten Christiansfeld in Dänemark und ähnlichen Siedlungen in anderen Ländern. International bekannt ist die Brüdergemeinde für die sogenannten Herrnhuter Sterne, beleuchtete Advents- und Weihnachtssterne mit einer charakteristischen geometrischen Bauart. 

Den transnationalen Charakter der Religionsgemeinschaft zu pflegen und ihr Kulturerbe zu schützen, ist eine europaweite Aufgabe. Hier ist Europa Nostra aktiv. Seit ihrer Gründung im Jahr 1963 setzt sich die Organisation für die Rettung von gefährdeten Denkmälern, Stätten und Landschaften in Europa ein. „Aktuell bauen wir Partnerschaften mit Siedlungen der Herrnhuter Brüdergemeinde in Dänemark und in Polen auf“, berichtet Uwe Koch, Präsident von Europa Nostra Deutschland. „Auch mit Tschechien, der Herkunftsregion der Glaubensflüchtlinge, wollen wir dabei zusammenarbeiten.“ 

Konzept des geteilten Erbes

Als europaweit größtes zivilgesellschaftliches Netzwerk für das Kulturerbe wird die Organisation mit Sitz in Den Haag dabei von öffentlichen Einrichtungen, Privatunternehmen und Einzelpersonen in über 40 Ländern getragen. In Partnerschaft mit der Europäischen Kommission würdigt sie mit den „Europa Nostra Awards / European Heritage Awards“ in den Kategorien Konservierung, Forschung, Bildung und Bürgerengagement herausragende Leistungen – und bringt über Veranstaltungen und Konferenzen Fachleute sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Öffentlichkeit an einen Tisch.

Der deutsche Arm von Europa Nostra mit Sitz in Potsdam fühlt sich dabei insbesondere dem Konzept des „Sharing Heritage“ verpflichtet, das den Austausch und die gemeinsame Verantwortung für kulturelles Erbe betont. Die Idee des geteilten Erbes interpretiert Europa Nostra jedoch nicht als rückwärtsgewandte Nostalgie. Vielmehr steckt hinter dem Ansatz der Gedanke, die europäische Dimension der Geschichte erlebbar zu machen und sie als Grundlage für das heutige Leben zu nutzen.

Koch erläutert dies am Beispiel der Lausitz, einer Region, die sich über Teile Deutschlands, Tschechiens und Polens erstreckt und für ihren Kohletagebau bekannt ist. „Die Industriekultur der Lausitz zum Beispiel ist eng mit den benachbarten Regionen in Polen und Tschechien verflochten. Alle drei Gebiete blicken auf eine rund 150-jährige Geschichte der Energiegewinnung und Kohleförderung zurück. Nun stehen sie vor gewaltigen Transformationsprozessen.“ Diese gemeinsamen Herausforderungen schaffen eine verbindende Grundlage für den Austausch zwischen den Beteiligten – und für partnerschaftliche Zukunftsvisionen.

Dr. Uwe Koch, Präsident von Europa Nostra Deutschland
Dr. Uwe Koch, Präsident von Europa Nostra Deutschland © Daniel Reiche, Notenspur Leipzig

Schutz des ukrainischen Kulturerbes

Die Idee, über ein gemeinsames europäisches Erbe die Zukunft mitzugestalten, gewinnt in Zeiten von Kriegen und Konflikten immer stärker an Relevanz. Mit seinen massiven Angriffen zerstöre Russland das ukrainische Kulturerbe – und vernichte damit die ukrainische Identität, so Koch. Umso wichtiger sei es, Geflüchteten Perspektiven zu bieten: Ein Kunsthistoriker aus Charkiw arbeite derzeit für einen wichtigen Kooperationspartner von Europa Nostra Deutschland, die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, im Bereich der Gemälderestaurierung.

Straße der europäischen Musik

Immaterielles Erbe, Industriekultur, Denkmalschutz – Europa Nostra nimmt die ganze Vielfalt des kulturellen Erbes in den Blick. „Im Frühjahr 2024 haben wir das belgisch-polnische Karski Quartett nach Potsdam eingeladen“, erzählt Koch. „Dort haben die Musiker auf dem Winzerberg, der 2018 mit dem Europäischen Kulturerbepreis ausgezeichnet wurde, ein Open-Air-Konzert gegeben und anschließend mit den Zuschauerinnen und Zuschauern einen Dialog geführt.“ Namensgeber des Ensembles, das über eine moderne Interpretation von Kammermusik zusammengefunden hat, ist Jan Karski. Während des Zweiten Weltkriegs übermittelte der polnische Widerstandskämpfer Informationen über den Holocaust an die westlichen Alliierten. Die Verbindung von Musik und weiteren Elementen des Kulturerbes möchte Europa Nostra auch in Zukunft weiter fördern. „Im besten Fall kann aus den Brücken zu den europäischen Nachbarländern eine Straße der europäischen Musik entstehen“, so Koch.

Das belgisch-polnische Musikensemble Karski Quartett
Das belgisch-polnische Musikensemble Karski Quartett © Europa Nostra Deutschland/Winzerberg

Verbindung von Kultur- und Naturpflege

Einen weiteren Fokus legt die Organisation auf die Verbindung von Kultur- und Naturpflege. „Der Klimawandel wirkt sich massiv auf das kulturelle Erbe aus“, erläutert Koch. Besonders bedroht seien unter anderem historische Parkanlagen: Hitzewellen oder Dürreperioden setzen insbesondere alten Bäumen zu, starke Niederschläge beschädigen Wege und verschlammen Teiche. Auch Schlösser, Villen und Klöster, die mit den Gärten meist eine gestalterische Einheit bilden, sind durch die Wetterextreme in ihrem Bestand gefährdet.

„Da für uns der Diskurs über den Erhalt des Kulturerbes untrennbar mit dem Naturschutz verbunden ist, war Europa Nostra auch auf der Weltklimakonferenz im November 2024 in Aserbaidschan vertreten und trägt die Initiative des ‚Global Call to put Cultural Heritage, Arts and the Creative Sector at the Heart of Climate Action‘ mit.“ Das fördert die Vernetzung der Bewahrer des Kulturerbes mit Naturschützern – und regt zu interdisziplinärem Denken und Handeln an. „Gleichzeitig möchten wir auch der breiten Öffentlichkeit begreifbar machen, wie stark der Klimawandel bereits in unserem Alltag angekommen ist“, sagt Uwe Koch.