Jenny Erpenbeck: Persönlicher Blick auf die deutsche Geschichte
Jenny Erpenbeck gewinnt als erste Deutsche den Booker Preis. Was macht die Autorin international so erfolgreich? Ein Porträt.
Im Ausland gilt sie schon seit Langem als ein der wichtigsten deutschen Gegenwartsautorinnen. Nun ist die deutsche Schriftstellerin für ihren aktuellen Roman „Kairos“ mit dem renommierten Booker Preis ausgezeichnet worden. „In leuchtender Prosa legt Jenny Erpenbeck die Komplexität der Beziehung zwischen einer jungen Studentin und einem viel älteren Schriftsteller offen. (…) Die Selbstversunkenheit der Liebenden, ihr Abstieg in einen zerstörerischen Strudel, bleibt mit der Geschichte Ostdeutschlands in dieser Zeit verbunden“, so die Begründung der kanadischen Autorin und Juryvorsitzenden Eleanor Wachtel.
In „Kairos“ geht es, wie so oft bei der 1967 in Ost-Berlin geborenen Autorin, um den Untergang der DDR Ende der 1980er-Jahre und seine Folgen. Beschrieben wird die toxische Beziehung der 18-jährigen Katharina zum 34 Jahre älteren Hans. Aus unterschiedlichen Generationen kommend, reagieren sie jeweils unterschiedlich auf den Zusammenbruch des Staates: Während für Katharina etwas Neues beginnt, will Hans, der als Schriftsteller und Journalist zur Elite des Landes gehört, die Zeit festhalten.
Zu dieser Kulturelite gehörte auch Jenny Erpenbeck, die aus einer bekannten DDR-Schriftstellerfamilie stammt. Schon ihre Großeltern schrieben Romane, ihr Vater ist ein bekannter Physiker, Philosoph, Psychologe und Romanautor, ihre Mutter arbeitet als Übersetzerin. „Ohne diese Familie stünde ich jetzt nicht hier“, so Erpenbeck bei der Preisverleihung. Fünfmal bereits war sie für den Booker Preis nominiert, 2015 gewann sie für ihren Roman „Aller Tage Abend“ den Independent Foreign Fiction Prize, den Vorgänger des Booker Preises.
Radikal persönlicher Umgang mit deutscher Geschichte
„Mein Schreiben“, erläutert Erpenbeck in ihrem 2018 erschienenen Essay „Kein Roman: Texte 1992 bis 2018“, „begann mit dem Nachdenken darüber, was Identität ist, und der Frage, wie viel man verlieren kann, ohne sich selbst zu verlieren.“ Seitdem wird sie nicht müde, vom Leben vor und nach der DDR zu erzählen, auch weil ihrer Ansicht nach noch immer viele Westdeutsche diesen Staat missverstehen. „Die Idee des Landes ist besser gewesen als das Land selbst“, erklärte sie in einem Interview mit der New York Times. Doch, so Erpenbeck weiter, „gab es in Ostdeutschland Freiheiten, die man nicht erwarten würde, (…) wie etwa nicht gezwungen zu sein, die ganze Zeit zu schreien, wie wichtig man ist und was man erreicht hat, um sich zu verkaufen.“
Internationale Leserinnen und Leser begeistert Erpenbeck vor allem durch ihren radikal persönlichen Umgang mit aktueller und vergangener deutscher Geschichte. 2017 prophezeite ihr der renommierte New-York-Times-Literaturkritiker James Wood gar den Gewinn des Literaturnobelpreises. Das war, als ihr Roman „Gehen, ging, gegangen“ auf Englisch erschien. Erzählt wird die wahre Geschichte von Asylsuchenden in Berlin, die 2015 auf dem Berliner Oranienplatz in den Hungerstreik treten, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Ein ganzes Jahr lang tauchte Erpenbeck in das Leben der Menschen ein, um die damalige Flüchtlingskrise literarisch zu verarbeiten.
Sie interessiere, wie „Politik sichtbar wird bis in die Körper von Menschen“, so Erpenbeck in einem Interview mit dem Goethe-Institut. Diese Verschränkung von Privatem und Politischen, dieser Sinn für das „Gewicht der Geschichte“, von dem Booker-Preis-Juryvorsitzende Eleanor Wachtel in ihrer Laudatio sprach, macht Erpenbeck zu einer der spannendsten literarischen Stimmen unserer Zeit.