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„Germany“ im British Museum

Eine eindrucksvolle Ausstellung im British Museum wirft ein neues Licht auf Deutschland.

Gina Thomas, 16.12.2014
© dpa/Daniel Kalker - British Museum

Nietzsches Satz, wonach es die Deutschen kennzeichne, dass bei ihnen die Frage „Was ist deutsch?“ niemals aussterbe, hat durch die Entwicklung des wiedervereinten Deutschland auch für die Nachbarländer an Bedeutung gewonnen. Zurzeit sind es die Briten, die diese Frage in Angriff nehmen mit der Ausstellung, „Deutschland: Erinnerungen einer Nation“ im British Museum, die anhand von exemplarischen Objekten zu ergründen versucht, aus welchen Komponenten die Identität des 1990 neu entstandenen Deutschland geschmiedet wurde.

Bislang war das Blickfeld in der medialen Darstellung und im Geschichtsunterricht auf die zwölf Jahre der Hitler-Diktatur fixiert. Durch die Ausstellung, die begleitet wird von einer BBC-Hörfunkserie aus 30 originellen Kurzvorträgen und einem reich illustrierten Buch, erweitert sich dieses Blickfeld jetzt auf 600 Jahre. Sie führen über die Gipfel und die Abgründe der deutschen Geschichte. Plötzlich lernen die Briten ein anderes Deutschland kennen. Das Projekt wirkt auf viele wie eine Offenbarung. Es ist, als sei ein Damm aufgestauter Missverständnisse gebrochen.

In den Jahren 2014 und 2015 fallen mehrere für die deutsch-britischen Beziehungen relevante Gedenktage an, darunter 300 Jahre seit der Personalunion zwischen dem Hause Hannover und Großbritannien, aber auch der Mauerfall vor 25 Jahren. Dass das British Museum dieses Datum herausgegriffen hat, um statt einer rückwärtsgewandten historischen Betrachtung Stoff zu frischem Nachdenken über Deutschland und seine Rolle in Europa zu bieten, erklärt sich zum einen aus dem aufklärerischen Gründungsgedanken des Museums, zum anderen aus der Weltanschauung seines Direktors, Neil MacGregor, einem Meister der assoziativen Vermittlung. Ihm geht es darum, das tradierte Deutschlandbild der Briten zu korrigieren. Es sei die Aufgabe des British Museum, den Bürgern dabei zu helfen, die Welt zu verstehen, erklärt MacGregor. Ohne das wichtigste Land in Europa sei die Welt von heute gar nicht zu begreifen. Dieses Projekt ist ihm Herzenssache.

MacGregor und das Kuratorenteam unter Barrie Cook machen die verschiedenen Erscheinungsformen der deutschen Nation seit dem Spätmittelalter an Einzelobjekten und Themenkomplexen fest, die politische Strukturen, historische Schlüsselmomente und kulturelle Errungenschaften ebenso beleuchten wie bestimmte Eigenschaften, sei es die Verbundenheit mit dem von der Romantik zur deutschen Seelenlandschaft erhobenen Wald oder die Tradition der feinmechanischen und handwerklichen Herstellung von der astronomischen Uhr des Straßburger Münsters über das „weiße Gold“ der Porzellanmanufaktur Meissen bis zum VW Käfer.

Wie sich diese Meisterschaft auch in den Dienst des Bösen gestellt hat, illustriert das haarsträubende, zynische Beispiel des Schmiedeeisentores des Konzentrationslagers Buchenwald mit der im Bauhausstil gestalteten Verzerrung des altrömischen Rechtsprinzips „Jedem das Seine“. Dazu schreibt MacGregor: „Mehr als jedes andere Objekt in dieser Erzählung der Geschichte Deutschlands bringt uns das fast in Sichtweite von Weimar und all dessen, wofür Weimar steht, errichtete Lagertor auf die unbeantwortete und womöglich unbeantwortbare Frage zurück: Wie konnte es geschehen? Wie kam es, dass die großen humanisierenden Traditionen der deutschen Geschichte diesen völligen ethischen ­Zusammenbruch nicht verhindert haben, der zur Ermordung von Millionen von Menschen und in die nationale Katastrophe führte?“

Ein deutscher Ausstellungsmacher hätte unter dem Zwang gestanden, eine Erklärung für das Unerklärliche anzubieten, meint MacGregor. Als Ausländer könne er sich des Kommentars enthalten. In der Ausstellung wird der Weg in die Katastrophe ohne moralische Belehrung durch das beredte Nebeneinander von Objekten gezeichnet: Tischbeins Porträt von ­Goethe in der römischen Campagna, eine Bauhauswiege und das Buchenwaldtor. Die Frage, wie dieses alles an einem Ort geschehen konnte, nistet sich im Kopf ein und nagt immerfort. Daraus wird MacGregors feinsinnige Methode ersichtlich. Sie liegt darin, Artefakte zu betrachten wie ein Geologe, der die Entwicklungsgeschichte der Erde aus den Sedimenten liest. MacGregor kitzelt die vielschichtige Bedeutung eines Gegenstands heraus und erhellt damit dessen suggestive Kraft. Auf diese Weise wird jedes Exponat zum Sinnbild. Es ist bestimmend für seinen Ansatz, dass er mit Hochachtung als Besonderheit hervorhebt, wie das Nachdenken über die Vergangenheit in Deutschland auf die Zukunft bezogen werde. MacGregors Projekt basiert auf der Überzeugung, dass der Dialog der Lebenden mit den Toten dazu beitragen kann, sich in der Gegenwart zurechtzufinden und die Zukunft zu gestalten. Man kann „Deutschland: Erinnerungen einer Nation“ auch als Versuch deuten, seinen europaskeptischen Landsleuten durch Aufklärung die Angst vor den Teutonen zu nehmen.

Im Zentrum der Darstellung liegt das Bestreben, den Besuchern vor Augen zu führen, dass es nicht eine deutsche Geschichte gibt, sondern viele deutsche Geschichten, die sich aus den fließenden Landesgrenzen und föderalen Strukturen ergeben. Das wird gleich zu Beginn bildhaft gemacht durch eine Vitrine mit einer Landkarte, wo Britannien durch eine einzige britische Goldmünze vertreten ist, während eine Fülle von Silbertalern die fragmentierten deutschen Lande übersät, jeder gekennzeichnet durch die individuelle Prägung der jeweiligen Fürsten, Bischöfe, Äbte und Städte, die im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation unter der kaiserlichen Ägide herrschten. Durch die leitmotivische Unterstreichung der bis in die Gegenwart fortgesetzten Dezentralisierung und der für den Zusammenhalt der verschiedenen Glieder des Staatskörpers notwendigen Tradition des Konsenses wird begreiflich gemacht, weshalb die Einbettung in der Europäischen Union auf das föderale Deutschland anders wirkt als auf Britannien.

An der positiven Rezeption von „Deutschland: Erinnerungen einer Nation“ wird deutlich, wie stark sich das Deutschlandbild der Briten in den letzten 25 Jahren gewandelt hat. Bis vor Kurzem gehörte es fast zur Berufsbezeichnung eines deutschen Botschafters in London, Klage führen zu müssen über die britische Obsession mit Hitler, über das Pochen auf teutonische Klischees und Stereotypen sowie die mangelnde Wahrnehmung des Nachkriegsdeutschland, das in der Darstellung der Boulevardpresse immer noch bevölkert war mit im Stechschritt marschierenden Grobianen mit Pickelhaube oder Stahlhelm. „Deutschland: Erinnerungen einer Nation“ ist die Krönung eines sich seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 vollziehenden Prozesses und setzt zugleich einen zukunftsweisenden Meilenstein. Vor wenigen Jahren wäre undenkbar gewesen, dass die Briten, wie jetzt bei einer Tagung anlässlich der Ausstellung, den Deutschen vorgehalten hätten, dass sie sich vor ihrer Führungsrolle drückten. Oder dass der Historiker Timothy Garton Ash den Deutschen bescheinigt hätte, sich jetzt relativ wohlzufühlen mit ihrer Identität – anders als die Briten, die zurzeit eine Identitätskrise durchmachten. Als die Ausstellung in der Planung war, wollte kein deutsches Unternehmen als Sponsor auftreten. Jetzt, wo Deutschland in aller Munde ist und die Besucherzahlen im British Museum den Erfolg der BBC-Serie belegen, dürften einige in den Chefetagen der deutschen Niederlassungen ihr mangelndes Vertrauen bedauern. Da hat MacGregors Verleger mit einer Erstauflage von 60 000 Exemplaren des Buches ein besseres Gespür für das gewachsene Interesse an Deutschland gezeigt. ▪