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Neun Gründe für die Rettung der Dörfer

Landflucht und Dorfsterben schaden der Demokratie, findet Geograf Gerhard Henkel. So steht es um Deutschlands Dörfer.

07.08.2018
Deutschlands Dörfer: liebenswerter Lebensraum
Deutschlands Dörfer: liebenswerter Lebensraum © PantherMedia/DmitryRukhlenko

Die Zukunft des Dorfes liegt ihm am Herzen: Mit Wissenschaft und Leidenschaft engagiert sich Humangeograf Gerhard Henkel für den ländlichen Lebensraum. Seine Bücher „Das Dorf. Landleben in Deutschland – gestern und heute“ und „Rettet das Dorf. Was jetzt zu tun ist“ liefern in Deutschland Diskussionsstoff zu den politischen Folgen der Landflucht. Hier erklärt der frühere Professor der Universität Duisburg-Essen was sich ändern muss.

Geografie-Professor Gerhard Henkel gilt in Deutschland als „Anwalt der Dörfer“.
Geografie-Professor Gerhard Henkel gilt in Deutschland als „Anwalt der Dörfer“. © Privat

Herr Henkel, Sie rufen zur Rettung der Dörfer auf. Wie ist die Lage in den ländlichen Regionen?
Es gibt gute und schlechte Entwicklungen. Das Positive: Der ökonomische und soziale Wandel der letzten Jahrzehnte hat dem Dorf viele Fortschritte gebracht. Die technische Infrastruktur mit Wasser-, Abwasser- und Energieversorgung ist auf einem guten Stand, das gilt auch für Sport-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen. Durch Bildung und Mobilisierung ist die Landbevölkerung heute wohlhabender, liberaler und weltoffener. Das Dorf wird grundsätzlich von seinen Bewohnern und Besuchern geliebt.

Das Negative: Die meisten Dörfer haben Betriebe, Arbeitsplätze und Infrastruktur verloren. Sie sind ohne Schulen, Gasthöfe, Läden, Post- und Bankfilialen und neuerdings auch ohne Kirchen. Jugendliche wandern ab, Ältere bleiben zurück. Ein Teufelskreis von realen Verlusten und schlechter Stimmung prägt zehntausendfach das Dorfleben.

Landflucht: verlassenes Haus in einem Dorf in Mecklenburg.
Landflucht: verlassenes Haus in einem Dorf in Mecklenburg. © dpa

Sie sagen, dass die Bundes- und Landespolitik die Dörfer schwächt. Wie meinen Sie das?
Bund und Länder tragen zur schlechten Stimmung auf dem Land bei. Sie geben den Landgemeinden und Dörfern zu wenig Anerkennung, finanzielle Unterstützung und gestalterische Freiräume. Vielfache Reglementierungen beschneiden immer massiver das im Grundgesetz verankerte Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden. Bürgermeister und Gemeinderäte klagen oft: „Wir können kaum noch etwa selbst gestalten.“

Durch „von oben“ auferlegte Gebietsreformen wurden viele Dörfer zu machtlosen Ortsteilen in oft riesigen Großgemeinden. Sie verloren die in Jahrhunderten aufgebaute und bewährte lokale Selbstverantwortung mit Bürgermeister und Gemeinderat. Deutschlandweit wurden mit den Gebietsreformen über 300.000 ehrenamtliche Kommunalpolitiker wegrationiert. Dadurch wurde in über 20.000 Dörfern und Kleinstädten eine bestehende demokratische Basis aufgelöst. Zahlreiche Studien belegen, dass Gebietsreformen kein Geld gespart, aber verheerende demokratische und infrastrukturelle Verluste verursacht haben. Sie entsprechen nicht dem heutigen Leitbild einer vom Bürger mitgetragenen Demokratie.

Die Entmündigung der Gemeinden und Dörfer erschwert die kommunalpolitische Arbeit und hat zu einem schlechten Ansehen der Kommunalpolitik geführt. Heute ist es in vielen Regionen schwierig, Nachwuchs für den Gemeinderat oder Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters zu finden.

Was müsste sich ändern?
Bekäme die Kommunalpolitik auf dem Land wieder mehr Befugnisse, würde ihr Ansehen steigen. Dann würden die Bürger auch wieder mitmachen, den Staat tragen helfen und sich mit dem Gemeinwesen solidarisieren. Die Bürger sind doppelt gefragt. Sie sollten sich in der Kommunalpolitik engagieren, aber auch die Vereine aktiv gestalten.

Die Aufgaben der Kommunalpolitik haben sich deutlich verändert. Früher ging es vor allem um Ausbau der Infrastruktur. Heute steht die Bekämpfung von Schrumpfungsprozessen sowie die soziale Grundversorgung der Dörfer mit Betreuung von Kindern und Senioren, Ärzten, Vereinen, Treffpunkten, Einkaufs-, Kultur- und Freizeitangeboten im Vordergrund.

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Warum dürfen die Dörfer nicht sterben?
Das Land macht 90 Prozent der Fläche Deutschlands aus, hier leben über 50 Prozent der Bevölkerung. Es ist für Staat und Gesellschaft genauso wichtig wie die Großstadt. Sie ergänzen sich und sind aufeinander angewiesen. Dafür gibt es neun gute Gründe:

  • Über 50 Prozent der Wertschöpfung Deutschlands erfolgen auf dem Land, viele Weltmarktführer haben ihren Sitz in Dörfern und Kleinstädten.
  • Das Land versorgt die Gesellschaft mit Lebensmitteln und Rohstoffen wie Wasser, Holz und erneuerbarer Energie.
  • Auf dem Land sind die Menschen zufriedener mit ihrem Wohnumfeld.
  • Kinder und Jugendliche können hier gesünder aufwachsen.
  • Ländliche Lebensstile sind in.
  • Es besteht eine hohe Kompetenz, lokale Aufgaben und Probleme ehrenamtlich oder genossenschaftlich anzugehen.
  • Selbstverantwortung und „Anpackkultur“ sind im Dorf tief verwurzelt.
  • Das Land bietet hochwertige Kulturlandschaften.
  • Hier existiert eine alternative Lebensform, die durch Natur- und Menschennähe geprägt ist.

Mein Appell an die Entscheider in Politik und Gesellschaft ist: Lasst das Dorf leben und seine bürgerschaftlichen Kräfte neu entfalten. Und gebt damit dem Staat seine demokratische Basis zurück.

Interview: Tanja Zech

© www.deutschland.de