„Einfach mal die Welt entdecken geht nicht“
Was machen Ausgangsbeschränkungen und Social Distancing mit Kindern? Die Psychologin Elisabeth Raffauf hat die Antworten.
Frau Raffauf, Abstand zu halten ist in Zeiten der Corona-Pandemie oberstes Gebot. Für Erwachsene ist das mühsam, für Kinder ungleich schwieriger. Woran liegt das?
Kinder sind viel näher an ihren Gefühlen als Erwachsene. Sie entdecken die Welt über alle Sinne. Sehen, hören, aber auch riechen, schmecken, anfassen. Sich anrempeln, wenn man sauer ist, sich knuddeln, wenn man sich mag.
Wie reagieren Kinder darauf, wochenlang nur mit dem engsten Familienkreis Kontakt zu haben?
Sie reagieren unterschiedlich. Alle werden in ihrer natürlichen Entwicklung gebremst. Einfach mal die Welt entdecken geht nicht. Die ganz Kleinen verstehen nicht, warum sie ihre Freunde nicht treffen oder die Oma küssen können. Sie sind sehr verunsichert. Teenager wollen unabhängig von den Eltern werden – und jetzt werden sie zurückgezogen. Das macht unzufrieden, wütend, ängstlich oder auch traurig.
Wie können Eltern die Auswirkungen von Social Distancing kompensieren?
Eltern können erst mal hinschauen und Verständnis haben. Den Kindern signalisieren, dass sie sehen, wie schwierig es ist. Das bestätigt Kinder darin, dass es richtig und okay ist, was sie wahrnehmen und fühlen. Die Welt ist gerade nicht richtig, sie schon.
Es ist wichtig, die Situation immer wieder altersgerecht zu erklären. Eltern und Kinder können gemeinsam überlegen, wie sie das Beste aus der Situation machen können. Wie können wir jetzt unseren Tag strukturieren? Wo finden wir Halt und Sicherheit? Man darf auch träumen und Pläne schmieden: Wenn das alles vorbei ist, gibt es eine „Knuddel-Party“.
In Frankreich, Italien und Spanien waren die Ausgangsbeschränkungen zeitweise so streng, dass Kinder nicht das Haus verlassen durften. Wie wirkt sich das aus?
Sich draußen zu bewegen, auch mal Abstand von den Familienmitgliedern zu nehmen und etwas anderes zu sehen als die eigenen vier Wände, ist für die Seele gut. Ein Großteil des Lebens in Ländern wie Spanien oder Italien spielt sich normalerweise draußen ab, die Piazza ist das Wohnzimmer, die Wohnungen sind kleiner. Für uns in Deutschland kommt es jetzt auch darauf an, wie lange die Einschränkungen anhalten. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Ausgrenzung wirken sich negativ aus, wenn sie länger dauern. Über einige Wochen lässt sich so eine Situation kompensieren – dauert der Zustand Monate oder Jahre, geht er ins Selbstverständnis über.
Elisabeth Raffauf ist Diplom-Psychologin und Gruppenleiterin einer Erziehungsberatungsstelle. Sie hat mehrere Bücher zum Thema Pubertät, Sexualerziehung und Mädchen veröffentlicht.
Interview: Sarah Kanning
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