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Gedenken als immerwährende Mahnung

Am 27. Januar gedenkt die Welt der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren. Noch können Zeitzeugen berichten.

Ulrich Krökel, 20.01.2020
Auschwitz.
Auschwitz. © dpa

Ein 93-jähriges Leben in eine kurze Erzählung zu fassen, ist ohnehin kaum möglich. Im Fall der Auschwitz-Überlebenden Anna gilt das erst recht. Wer der Kunsthistorikerin zuhören will, sollte entsprechend viel Zeit mitbringen. Anna Szałaśna sitzt im Rollstuhl in der kleinen Wohnung am Rande der Warschauer Altstadt, in der sie noch immer allein ihren Alltag bewältigt. Zunächst erzählt sie, wie sie als 13-Jährige in den Kriegswirren des Septembers 1939 ein Bein verlor, getroffen von einer Kugel der eigenen polnischen Soldaten. Es ist eine Geschichte für sich.

Damals trifft der Vater die Entscheidung zur Amputation und ist damit der Erste, der der kleinen Anna, die so gern Klavier spielt, das Leben rettet. Die Familie schafft es, sich nach Südpolen durchzuschlagen. Doch der geliebte Bruder wird verhaftet und in ein KZ bei Magdeburg deportiert. Anna schreibt ihm wieder und wieder, bis sie einmal mit dem Satz endet: „Das Wichtigste ist, dass der Moment der Befreiung naht.“ Die Gestapo fängt den Brief ab. Das ist im Mai 1943. Anna ist 16, im Frühling ihres Lebens. Statt des linken Beins trägt sie zwar eine Prothese, doch in normalen Zeiten könnte sie Klavier spielen, sich verlieben. Die Zeiten sind aber nicht normal.

Die Erinnerung ist lebendig, als sei es gestern passiert

Anna wird in einem Güterwagen nach Auschwitz verfrachtet. Mit 93 Jahren erinnert sie sich an die ersten Stunden im KZ noch, als wäre alles gestern passiert. „Ausziehen, alles ausziehen!“ Sie ahmt die kreischenden Stimmen der Aufseher nach. „Sie haben uns alle Haare abrasiert. Auf dem Kopf, unter den Achseln, die Scham. Die absolute Nacktheit verändert einen Menschen.“ Anna erlebt mit, wie 1944 Hunderttausende ungarische Juden in Viehwagen antransportiert, vergast und verbrannt werden. „Die Krematorien reichten nicht aus. Also wurden die Leichen in riesige Gruben geworfen. Den Geruch der brennenden Menschenknochen werde ich immer in der Nase behalten.“

Auschwitz-Überlebende Anna Szalasna mit Ruth Dahlhoff (links) und Juliane Smykalla, Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen.
Auschwitz-Überlebende Anna Szalasna mit Ruth Dahlhoff (links) und Juliane Smykalla, Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen. © Krökel

Anna Szałaśna überlebt Auschwitz durch rettende Zufälle und die Hilfe anderer Menschen. Im August 1944 wird sie ins KZ Ravensbrück verlegt, wo sie jenen „Moment der Befreiung“ erlebt, den sie schon 1943 im Brief an ihren Bruder herbeigesehnt hatte. Weiter im Osten ist es die Sowjetarmee, die am 27. Januar 1945 Auschwitz befreit. 75 Jahre ist das her. Seit 2005 begeht die Welt an diesem Datum auf Beschluss der Vereinten Nationen den Holocaust-Gedenktag. Das wird sicher auch in 25 Jahren noch so sein, am 100. Jahrestag. Und doch werden die Formen des Erinnerns dann andere sein, weil Zeitzeugen wie Anna Szałaśna fehlen.

Erinnerung bedeutet auch: „Nie wieder“

Was kann man tun, um ein würdevolles Gedenken an die Opfer des NS-Terrors dauerhaft zu sichern und mit der Mahnung des „Nie wieder“ zu verbinden? „Das ist eine schwierige Frage, auf die es keine eindeutige Antwort gibt“, sagt Piotr Cywiński, Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, wie die KZ-Gedenkstätte offiziell heißt, die seit 1979 auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes steht. Cywiński ist auch Präsident der „Fundacja Auschwitz-Birkenau“ mit Sitz in Warschau. Die Stiftung, die 2009 von dem Auschwitz-Überlebenden und großen deutsch-polnischen Versöhner Władysław Bartoszewski gegründet wurde, hat es sich zum Ziel gesetzt, die KZ-Gedenkstätte mit all ihren mahnenden Erinnerungsstücken zu erhalten: die Schuhe und die Sträflingskleidung, die Holzlöffel und Suppenschüsseln, aber auch die Mauern und den Stacheldraht, die Gaskammern und die Krematorien.

Bundeskanzlerin Angela Merkel besucht mit Polens Premierminister Mateusz Morawiecki im Dezember 2019 Auschwitz. Mit dabei: Piotr Cywinski (ganz links), Direktor der Gedenkstätte, und sein Stellvertreter Andrzej Kacorzyk (ganz rechts).
Bundeskanzlerin Angela Merkel besucht mit Polens Premierminister Mateusz Morawiecki im Dezember 2019 Auschwitz. Mit dabei: Piotr Cywinski (ganz links), Direktor der Gedenkstätte, und sein Stellvertreter Andrzej Kacorzyk (ganz rechts). © dpa

Leicht ist das nicht. Im Gegenteil. Die Region um Auschwitz, das heutige Oświęcim, nicht weit von Krakau, ist eine wasserreiche, teils sumpfige Landschaft. Für die SS war das 1940 ein Grund, dort ein KZ zu errichten: Die Natur erschwerte jede Flucht. Heute erschwert die Feuchtigkeit vor allem die Konservierung der Baracken, aber auch vieler anderer Exponate, wie Cywiński im Gespräch berichtet. Und deren Erhaltung kostet Geld. „Deshalb sind wir allen unseren Stiftern zu großem Dank verpflichtet“, betont der Museumsdirektor. Die Bundesrepublik Deutschland sah sich von Anfang an in der Verantwortung, die Arbeit der Stiftung finanziell zu unterstützen. Anfang Dezember 2019 beschlossen Bund und Länder, den Kapitalstock mit je 30 Millionen Euro noch einmal zu erhöhen.

Vor dem Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der KZ-Gedenkstätte Anfang Dezember 2019 würdigte Cywiński den deutschen Beitrag ausdrücklich, mahnte aber weitere Anstrengungen an, nicht nur finanzieller Art, weil „unser Erinnern schon heute zu oft versagt“. Viel zu selten werde die Verantwortung für die Gegenwart übernommen, die sich aus dem Erinnern ergibt. Hier gegenzusteuern, das versucht die im Jahr 2000 gegründete Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), deren Träger die Bundesrepublik ist. Neben der inzwischen abgeschlossenen Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter finanziert die EVZ dauerhaft Projekte, die das Gedenken an die Opfer wachhalten und die Versöhnung fördern sollen.

Engagement der Aktion Sühnezeichen

Ähnlich verfährt die Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung mit Sitz in Warschau. Sie ermöglicht unter anderem die Sozialarbeit von Freiwilligen, die sich um die Betreuung von NS-Opfern kümmern. Auch um Anna Szałaśna. Einmal in der Woche besuchen Ruth Dahlhoff und Juliane Smykalla die 93-Jährige. Die beiden jungen Frauen aus Deutschland, die seit Oktober als Volontärinnen der Aktion Sühnezeichen in Warschau leben, „reden extrem gern mit Pani Anna“. Genauer gesagt hören sie vor allem zu – und leisten auf diese Weise ihren Beitrag, die Erinnerung an das unsagbare Grauen von Auschwitz zu bewahren.

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