Blühende Freundschaften
Ein persönlicher Rückblick auf 30 Jahre Nachbarschaft zwischen Polen und dem wiedervereinten Deutschland von dem Korrespondenten Ulrich Krökel.
Am 3. Oktober 1990, ich erinnere mich gut an diesen sonnigen Frühherbsttag, war ich bei einer Freundin in Kiel zu Besuch. Die Mutter, eine Engländerin, gratulierte mir herzlich zur Wiedervereinigung. Das sei doch ein welthistorischer Tag! Mit 22 Jahren habe ich das nicht recht verstanden. Jedenfalls war mir nicht nach Feiern zumute. Obwohl ich im sogenannten Zonenrandgebiet in Niedersachsen aufgewachsen bin, mit der Mauer quasi vor der eigenen Haustür. Ich war ein „Wessi“, der sich aber von Anfang an für den Osten interessierte, weil der Eiserne Vorhang erst recht die Neugier auf die Welt dahinter weckte.
Lech Wałęsa, Václav Havel und Michail Gorbatschow waren Helden meiner Jugend. Ich fieberte mit den friedlichen Revolutionären in Danzig, Leipzig und Prag, aber auch mit den Reformern in Moskau. Ihr mutiges Ringen war der Grund dafür, dass ich ein Studium der Osteuropäischen Geschichte und der slawischen Sprachen aufnahm. Und als sich dann der Eiserne Vorhang hob, da machte ich mich sofort auf den Weg nach Osten. Rostock und Dresden waren die ersten Stationen, dann Breslau, Prag und Bratislava, später Warschau und Sankt Petersburg. Ich war elektrisiert und begeistert. Und dennoch: Der nationale deutsche Zusammenschluss im Herzen Europas blieb mir noch eine ganze Weile suspekt.
Es wäre natürlich ein Leichtes, mit dem Wissen von heute die Skepsis von einst wegzuerklären. Tatsächlich bin ich mit der deutschen Einheit längst im Reinen. Meine Vorbehalte, das geeinte Deutschland könnte sich zu sehr auf sich selbst konzentrieren und sich von der Welt abkapseln, waren unbegründet. Die neue Bundesrepublik, so erlebe ich es, ist viel weltoffener als die alte. Über die DDR, die ich nur bei Verwandtenbesuchen kennengelernt habe, will ich hier nicht urteilen. In jedem Fall aber sind wir vereinten Deutschen nun gemeinsam offener. Und das hat entscheidend mit dem Zusammenwachsen Europas zu tun, insbesondere mit der EU-Osterweiterung von 2004 und zuallererst mit dem direkten Nachbarn Polen.
Blühende Freundschaften zwischen Ost und West
Diese Öffnung nach Osten gehört zu den großartigsten Erfahrungen meines Lebens. Und ich bin überzeugt davon, dass es sich nicht nur um eine politisch gewollte, sondern um eine echte, von den Menschen getragene Öffnung handelt. Bei allen Problemen, die es bis heute gibt. Aber gerade das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen zeigt, dass im Herzen Europas nicht nur „blühende Landschaften“ entstanden sind (um das berühmte Wort von Helmut Kohl aus dem Jahr 1990 aufzugreifen). Vor allem gibt es viele blühende Freundschaften zwischen Ost und West. Man erinnere sich nur an die spontane Umarmung der Bürgermeister von Frankfurt an der Oder und Słubice, René Wilke und Mariusz Olejniczak, nach dem Ende der coronabedingten Grenzschließungen im Juni. Dass sie dabei die Abstandsregel ignorierten, war ein Fehler – aber eben auch ein Beleg für die Herzlichkeit der Freundschaft.
Das wechselseitige Kennenlernen nach 1990 hat auch die Sichtweisen fundamental verändert. Vor allem gilt das für den deutschen Blick auf Polen. Davon zeugen Studien wie das deutsch-polnische Barometer. Persönlich empfinde ich diese Veränderungen aber weit stärker, als es alle Zahlen ausdrücken könnten. Zu lebhaft erinnere ich mich an meine Zeit als Deutschlektor an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen. Das war in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre. Damals griff in Deutschland nicht nur TV-Entertainer Harald Schmidt mit seinen Polenwitzen regelmäßig in die unterste Schublade, die bis zum Rand gefüllt war mit Vorurteilen.
Die Klischees – und die Realität
„Kaum gestohlen, schon in Polen“, lautete damals ein gängiger Spruch in der Bundesrepublik über Autodiebe aus dem Nachbarland. Und sogar das uralte Stereotyp von der „polnischen Wirtschaft“ erlebte kurzzeitig eine neue Blüte. Dabei wussten wahrscheinlich die wenigsten Deutschen, dass der Ausdruck mehr als 200 Jahre alt war. Schlechte Organisation, Ineffektivität, Faulheit: Das waren die Klischees, die sich in dem Begriff ballten. Es war schmerzhaft für mich, über solche Stereotype mit meinen Germanistik-Studierenden in Posen zu sprechen. Schlimmer war, dass in deutschen Medien damals mehr als genug Anschauungsmaterial zu finden war.
Doch das änderte sich nach der Jahrtausendwende schnell. Einfach weil die Realität in immer krasserem Widerspruch zu den Klischees stand. Denn die Menschen in Polen sorgten mit enormem Einsatz und höchster Effektivität für ein Wirtschaftswunder, das in Europa seinesgleichen sucht. Und da dank der EU-Erweiterung immer mehr Deutsche über Oder und Neiße nach Osten fuhren, veränderte sich auch ihr Blick auf das Nachbarland. Die Polenwitze und die Autoklaugeschichten verschwanden aus dem deutschen Alltag und aus den Medien.
Stattdessen sorgte Bundespräsident Joachim Gauck 2012 mit der Aussage für einen kleinen Aufruhr, die Menschen in Polen seien fleißiger als seine eigenen Landsleute. Acht Jahre später habe ich den Eindruck, dass sich Vergleiche dieser Art mittlerweile komplett erübrigt haben. Noch immer gibt es zwar in Polen ein Gefühl, so etwas wie „Europäer zweiter Klasse“ zu sein. Meine persönliche Prognose jedoch lautet, dass davon in zehn oder spätestens 20 Jahren keine Rede mehr sein wird. Die vergangenen 30 Jahre haben einfach zu eindrücklich gezeigt, dass im Herzen Europas immer weiter zusammenwächst, was zusammengehört – auch über nationale Grenzen hinweg.