Wirtschaftswunder im Herzen Europas
Trotz Corona-Pandemie boomt der deutsch-polnische Handel mehr als je zuvor: glänzende Perspektiven für gemeinsame Zukunft.
Die Bilder aus dem März 2020 sind unvergessen. Auf der Autobahn 12 vor der Oderbrücke bei Frankfurt reihten sich die Lkw wie Perlen aneinander. Auf 60 Kilometer Länge staute sich der Verkehr bis zum Berliner Ring zurück. Weiter im Süden waren es vor dem Grenzübergang Jędrzychowice Richtung Breslau mehr als 50 Kilometer. Die erste Welle der Corona-Pandemie zwang Europa damals in den Lockdown. Viele EU-Staaten setzten kurzerhand die Schengen-Regeln außer Kraft und führten an ihren Grenzen wieder Kontrollen ein. Zwischen Deutschland und Polen waren tagelange Megastaus die Folge.
Polen überholt Frankreich und ist viertgrößter Handelspartner
Ein Jahr später ist der Kampf gegen Covid-19 zwar noch keineswegs gewonnen. Der Verkehr im Herzen Europas jedoch läuft längst wieder reibungslos. Vor allem Lkw rollen wie zu besten Zeiten. Der deutsch-polnische Handel boomt, als hätte die Corona-Pandemie die Weltkonjunktur nie auf Talfahrt geschickt. Von Krise keine Spur: Polen exportierte 2020 so viele Güter und Dienstleistungen ins westliche Nachbarland wie nie zuvor. Mit einem Volumen von 58,1 Milliarden Euro übertrafen die Ausfuhren den Allzeitrekord von 2019 noch einmal um ein Prozent. Damit stieg Polen zum weltweit viertstärksten Lieferanten Deutschlands auf und überholte Frankreich. Nur die Giganten China und USA sowie die Niederlande mit Maschinenbau und ihrer starken Öl- und Gasindustrie stehen weiter oben.
Doch auch in umgekehrter Richtung läuft es rund. Die deutschen Ausfuhren nach Polen sanken 2020 zwar leicht um 1,8 Prozent auf 64,7 Milliarden Euro. Aber auch das war ein historisch starker Wert, wie Lars Gutheil unterstreicht, der Chef der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer (AHK Polen). Sein Fazit: „Polnische Unternehmen haben die Krise als Chance begriffen, Kontakte zum deutschen Mittelstand anzubahnen. Umgekehrt bleibt Polen als Endkundenmarkt, aber auch im gewerblichen Geschäft für deutsche Unternehmen hoch spannend.“
Wie gut die Lage trotz des Pandemiejahres ist und wie glänzend die Perspektiven für die Zwanzigerjahre sind, belegt auch ein Blick zurück. Allein im vergangenen Jahrzehnt verdoppelte sich das deutsch-polnische Handelsvolumen auf 123 Milliarden Euro. Damit setzte sich Polen zuletzt vor Italien auf Platz fünf der wichtigsten Wirtschaftspartner Deutschlands. Noch beeindruckender ist die Bilanz, wenn man die gesamte Zeit seit der deutschen Wiedervereinigung betrachtet. Der Breslauer Ökonom Sebastian Płóciennik überschrieb eine Analyse zu den deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen nach 1990 mit der rhetorischen Frage: „Besser geht’s nicht?“ Die Antwort lautete: „Die letzten dreißig Jahre sind eine Erfolgsgeschichte […], aber das Erreichte macht Appetit auf mehr“. Es ist also noch mehr drin.
AHK-Geschäftsführer Gutheil geht die Chancen konkret durch und nennt dabei zunächst die Digitalisierung. Derzeit werde „im polnischen Mittelstand stark in Automatisierung und Robotisierung investiert“. Zugleich stehen in der sechstgrößten Volkswirtschaft der EU gewaltige Veränderungen des Energiemarkts bevor. Im Zeichen des Klimawandels „werden bis 2040 enorme Summen in den Ausbau erneuerbarer Technologien fließen. Das bietet Chancen für beide Seiten, enger miteinander zu kooperieren“, hofft Gutheil. Auch die klassisch starken Sektoren Polens wie die Autobranche, der Maschinenbau, die Nahrungsmittelindustrie sowie der Pharma- und Gesundheitssektor böten hervorragende Perspektiven für den bilateralen Handel.
Länder profitieren von Veränderungen in den Lieferketten
Der optimistische Ausblick verstärkt sich noch, wenn man die Lerneffekte aus der Corona-Zeit berücksichtigt. Dazu zählt vor allem die Erkenntnis, dass extrem globalisierte Lieferketten im Krisenfall auch extrem anfällig sein können. Das Polnische Wirtschaftsinstitut (PIE) sieht deshalb eine Neuordnung der Handelsrouten nach der Pandemie voraus. Ergebnis der PIE-Projektion: Polen und Deutschland werden in der EU am stärksten von einer Verkürzung internationaler Lieferketten profitieren. Das deckt sich mit einer Prognose der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Frankfurt am Main: „Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering, dass mit der Neujustierung und Verkürzung von Produktionsketten nach Abklingen der Covid-19-Pandemie die mittelosteuropäische Region als Ganzes profitiert.“