„Ich setze große Hoffnung in die Jugend“
Für Europa kämpfen: Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan erklärt, wie die EU für junge Menschen wieder attraktiv werden kann.
Frau Schwan, Sie sind eine Kämpferin für Europa. Warum suchen Sie immer wieder den Dialog, auch wenn er oft schwierig ist?
Ich bin 1943 in Berlin geboren und in dem Bewusstsein aufgewachsen, wie viel Zerstörung der Krieg Europa gebracht hat. Europa begriff ich daher schon von frühester Kindheit an als Friedens- und Verständigungsprojekt. Ich besuchte das Französische Gymnasium in Berlin. Dort stand die bilaterale Verständigung im Vordergrund. Nach der Schulzeit habe ich Polnisch gelernt, und die deutsch-polnischen Beziehungen wurden für mich besonders wichtig, auch in meiner Dissertation über den polnischen Philosophen Leszek Kolakowski. Ich sehe mich als Europäerin und die Europäische Union in der gegenwärtigen globalen Umbruchssituation als den Ort, an dem noch am ehesten ein soziales, kulturelles und politisches Zusammenleben praktiziert wird, wie ich es für erstrebenswert halte.
Was macht das Projekt „Europäische Union“ so besonders?
Die EU war und bleibt eine großartige Chance, von Kriegszeiten in einen Friedenszustand überzugehen. Sie war bereits Vorbild für viele Länder und Kontinente, beispielsweise die Afrikanische Union. Wir haben die Verpflichtung, dieses Vorbild nicht zu verraten.
Die meisten Menschen, die sich beruflich mit der EU befassen, zweifeln nicht an deren Wert. Aber viele Bürger sind der EU überdrüssig. Woher kommt diese Diskrepanz?
Marktradikale Politik und eine Ökonomisierung der Lebensbereiche haben in den vergangenen 30 Jahren überhandgenommen. Das hat zu gefährlichen Ungleichheiten geführt. Verantwortlich dafür ist aber nicht die Europäische Kommission, sondern es sind die Staaten selbst. Auch Deutschland hat meiner Meinung nach die Risse in der EU zugunsten nationaler Interessen stark befördert. Wir müssen erkennen, dass Europa scheitert, wenn wir nicht umsteuern.
Wie kann das gelingen?
Man müsste Partizipation auf der kommunalen Ebene stärken. Könnten Gemeinden wie Gelsenkirchen, Nantes oder Murcia – europäisch unterstützt – beispielsweise die Integration von Flüchtlingen selbst in die Hand nehmen, wäre die Eigenständigkeit der Bürger besser spürbar und gleichzeitig die Verbindung zu Europa stärker. Es reicht nicht, eine Plakette an einer Autobahn anzubringen, „errichtet aus Mitteln der EU“ – das interessiert kaum jemanden.
In der Flüchtlingskrise haben Sie der EU und Deutschland einen „Mangel an Solidarität“ vorgeworfen. Was meinten Sie damit?
Die Bundesrepublik hat sich seit 2015 darüber beklagt, dass die mittel- und osteuropäischen Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen mit ihr nicht solidarisch seien. Dabei war die Bundesregierung jahrelang vorher unsolidarisch mit den südlichen Ländern. Deutschland verwies immer auf das strukturell unsolidarische Dublin-Abkommen, während hauptsächlich Griechenland und Italien die Aufnahme von Flüchtlingen bewerkstelligen mussten. Ich schlage vor, einen europäischen Fonds zu schaffen, um die Migrations- und Flüchtlingspolitik zu europäisieren. Der Fonds würde Kommunen für ihre Aufnahme belohnen – nicht nur durch die Erstattung der Kosten, sondern durch einen Beitrag in gleicher Höhe für die eigene Entwicklung. Das würde die Aufnahmebereitschaft erhöhen und eine positive Dynamik auslösen.
Brexit, Nationalismus, Ungleichheit – die EU kämpft mit vielen Herausforderungen. Was steht für die Bewohner auf dem Spiel, sollte sie auseinanderbrechen?
Der Brexit wirkte so bedrohlich, weil wir einen Dominoeffekt befürchteten. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Staaten sind näher zusammengerückt. Im Alltag ist uns oft gar nicht bewusst, wie stark wir in der EU voneinander abhängen. Von der Produktion über den Handel bis hin zur Organisation von Bildung oder Medizin sind wir längst transnational miteinander verwoben.
Wir müssten unendlich viel Zeit darauf verschwenden, das alles auseinanderzudröseln, wenn wir ohne Europäische Union leben wollten. Ich denke, auch die EU-Bürger wissen, dass das Unsinn ist. Dennoch ist die innere Abhängigkeit zu Europa nicht so stark, dass wir eine vertrauensvoll funktionierende Beziehung innerhalb der Europäischen Union hätten. Aber möchten Sie in einer Welt leben, in der jeder jeden betrügt? Das ist doch die Hölle. Ich setze große Hoffnung in die Jugend: Junge Menschen haben die Energie, das zu ändern.
Gesine Schwan stammt aus einer sozial engagierten Familie, die im Nationalsozialismus Widerstandskreisen angehörte. Sie kandidierte 2004 und 2009 für das Amt der Bundespräsidentin. Fast zehn Jahre leitete sie als Präsidentin die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. 2009 gründete sie mit anderen Wissenschaftlern die HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance. Sie ist heute Präsidentin und Mitgründerin der im Juni 2014 gegründeten HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform, die sich für die Förderung von demokratischen Prozessen und Governance-Strategien in Deutschland, Europa und der Welt einsetzt.
Interview: Sarah Kanning