Frauen weltweit stärken
Nobelpreisträgerin Nadia Murad schreibt hier exklusiv, wie wichtig Gleichberechtigung für den Weltfrieden ist.
In ihrer Heimat Irak überlebte die Jesidin Nadia Murad nur knapp den Terror des Islamischen Staates und kam über ein Hilfsangebot nach Deutschland. Seit 2016 ist sie die erste Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel der Vereinten Nationen. Für ihr Engagement erhielt sie 2018 den Friedensnobelpreis.
Die Kampagne zum Internationalen Frauentag 2022 ermuntert uns dazu, uns eine geschlechtergerechte Welt vorzustellen. Doch ich sage, dass wir uns die gar nicht vorstellen müssen. Wir sollten selbst damit beginnen, sie aufzubauen, und zwar sofort.
Ich habe mir mein Leben ganz anders vorgestellt als das, was ich jetzt führe. Doch die reale Welt der Ungleichheit, in der wir leben – gezeichnet von Gewalt und Krieg – hat mir einen anderen Weg gewiesen. Heute jedoch erhebe ich stolz meine Stimme für die Frauen, denen wie ich ihre Träume geraubt wurden. Ich nutze meine Stimme, damit eines Tages, wenn Geschlechtergerechtigkeit tatsächlich Wirklichkeit geworden ist, keine Frau und kein Mädchen ihre Hoffnungen und Wünsche fahren lassen müssen, um einen ungleichen Status Quo aufrechtzuerhalten.
Wenn deine Träume zerstört werden
Von Kindheit an erkannte ich, dass Geschlecht bei individuellen Erfahrungen eine zentrale Rolle spielt. Ich sah, welche Nöte meine alleinerziehende Mutter in unserer Heimat Sindschar im Irak litt, wo sie nicht nur aufgrund ihres Geschlechts, sondern auch aufgrund ihrer Religion diskriminiert wurde. Trotz dieser Diskriminierung trat sie furchtlos für ihre eigenen Rechte und die ihrer Kinder ein und weigerte sich, den Erwartungen von Männern zu entsprechen. Ich lernte viel von ihrem Mut. Als kleines Mädchen schon wusste ich, dass ich dem Beispiel meiner Mutter folgen wollte. Ich würde mich nicht an gesellschaftliche Normen halten. Ich würde meine Träume verwirklichen, wozu sie mich ermutigte und inspirierte.
Doch diese Träume zerplatzten bald. Ich war eine junge Frau, als der sogenannte Islamische Staat (IS) 2014 meine jesidische Gemeinde angriff – eine brutale Attacke, die von den Vereinten Nationen als Völkermord bezeichnet wurde. Tausende Jesidinnen und Jesiden wurden in Sindschar massakriert, darunter auch meine Mutter und sechs meiner Brüder. Etwa 400000 Menschen flohen zu Fuß auf den Höhenzug Dschabal Sindschar und in die angrenzende Kurdenregion. In der Panik der Flucht wurden Familien auseinandergerissen. Die Menschen flohen einzeln und mit nichts als dem, was sie tragen konnten.
Vor ihnen lagen Durst, Hunger und grausame Temperaturen, die zahlreiche weitere Leben forderten. Neben den Massenmorden nahm der IS auch mehr als 6500 jesidische Frauen und Kinder gefangen. Die meisten von ihnen, darunter auch ich, wurden sexuell versklavt. Wir wurden wie Gegenstände ge- und verkauft. Schließlich konnte ich entkommen und mich in ein Flüchtlingslager retten. Seither habe ich in Deutschland Asyl erhalten, in einem Land, dass ich jetzt stolz meine Wahlheimat nenne.
Andere jedoch hatten weniger Glück. Beinahe acht Jahre später sind immer noch fast 2800 Frauen und Kinder in Gefangenschaft oder vermisst. Hunderttausende sind geflohen und dem IS entkommen, können nicht nach Sindschar zurück. Wir bauen unsere Gemeinde immer noch Stück für Stück wieder auf.
Der Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt
Die zielgerichtete sexualisierte Gewalt gegen jesidische Frauen war kein Zufall, keine Nebenwirkung des bewaffneten Konflikts, sondern eine der Hauptwaffen des IS. Die Täter verstehen die Wirkung geschlechtsspezifischer Gewalt sehr gut. Frauenrechte anzugreifen und zu missachten – also auch, aber nicht nur sexualisierte Gewalt – zerstört Gemeinschaften und hemmt jede Entwicklung.
Dieses Muster sehen wir überall auf der Welt. Werden Frauen marginalisiert, dann werden Gemeinschaften destabilisiert. Der IS wusste, dass Frauen und Mädchen eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung von Gesellschaften spielen, und ebenso wichtig sollte ihre Rolle beim Wiederaufbau und der Neuausrichtung genau dieser Gesellschaft sein. Allzu oft werden Entscheidungen für Frauen getroffen, vor allem für Überlebende sexualisierter Gewalt. Sie erhalten leere Versprechungen von Regierungen und Organisationen, die sie dann aber von der Entscheidungsfindung ausschließen.
Darum leite ich heute neben meiner Arbeit für Überlebende von Völkermord und sexualisierter Gewalt die Organisation Nadia’s Initiative, die eine Welt schaffen will, in der Frauen in Frieden leben können, und wo traumatisierte und leidgeprüfte Gemeinschaften unterstützt und wiederaufgebaut werden. Wir haben zwei Hauptziele. Erstens: In meiner Heimat lebenswichtige Ressourcen und Dienstleistungen verfügbar machen, denn die Region hat einen ungeheuren Verlust und schweres Unrecht erlitten. Zweitens: Weltweit für politische Veränderungen kämpfen, die geschlechtsspezifische Gewalt in Konfliktregionen verhindern und den Opfern solcher Übergriffe die nötige Unterstützung zukommen lassen.
Mithilfe der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) haben wir beispielsweise 438 von Frauen geführte bäuerliche Haushalte wieder instandgesetzt und sie mit Vorräten und Ausbildung versorgt, sodass sie jetzt nachhaltige Landwirtschaft betreiben können. Im gleichen Jahr haben wir in Sindschar das allererste Inkubator-Programm für Kleinunternehmen von Frauen aufgesetzt, das 57 Überlebenden aus IS-Gefangenschaft eine Perspektive bietet. Das Projekt war so außerordentlich erfolgreich, dass wir eine zweite Förderrunde aufgelegt haben, um 50 weitere Frauen zu unterstützen.
Stärkung von Frauen als zentraler Bestandteil des Wandels
Frauen sind unerlässlich zur Lösung des Problems. Die Überlebenden wissen am besten, was sie brauchen – was ihre Gemeinschaften brauchen – um sich zu erholen und gesund zu werden. Wir können die Unterstützung für Überlebende nicht von der umfassenden Wiederherstellung der jesidischen Gemeinschaft abtrennen, so wie wir auch sexualisierte Gewalt nicht von umfassender, systemischer Geschlechterungerechtigkeit abtrennen können. Frauen haben so viel beizusteuern, doch wir werden dazu nur in die Lage versetzt, wenn unsere Grundrechte geachtet werden.
Ohne Geschlechtergerechtigkeit sind unsere Möglichkeiten, Wandel herbeizuführen, sehr begrenzt; und wir können auch viel weniger verhindern, dass anderen genau das geschieht, was ich und meine Gemeinde erleiden musste. Wir müssen aktiv daran arbeiten, Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, denn ohne sie ist unser Versuch, geschlechtsspezifische Gewalt zu beenden und dafür zu sorgen, dass niemand mehr wegen solcher Gewalttaten aus seiner Heimat flüchten muss, womöglich zum Scheitern verurteilt. Und das dürfen wir nicht hinnehmen.
Ob bei der Ermutigung zu politischem Aktivismus, bei der Förderung von Frauen am Arbeitsplatz oder durch die Wahl von Frauen in politische Führungspositionen – Deutschland bietet bereits ein hervorragendes Beispiel. Doch wir dürfen nicht ruhen, bis solche Rechte für alle Frauen in allen Gruppen in allen Ländern der Welt gelten.
Wir müssen darüber nachdenken, was wir alle – als Einzelne, als Organisationen, als Nationen – dazu beitragen können, dass dieses Ziel erreicht wird. Wir brauchen ein globales Dorf, um dafür zu sorgen, dass Frauen gleiche Rechte bekommen und als Entscheiderinnen und Führungskräfte respektiert werden. Wir können die Welt verändern, indem wir in Frauen und Mädchen investieren, Gewalt gegen sie verhindern und ihnen Möglichkeiten bieten, ihre Stimmen, Geschichten, Ideen zu verbreiten.
Ich vertraue darauf, dass Deutschland weiterhin mit gutem Beispiel vorangehen und andere ermutigen wird, substantielle Fortschritte zu machen – im Bemühen, sowohl die Verletzer von Menschenrechten zur Rechenschaft zu ziehen als auch Frauen mit an den Tisch zu holen, damit wir eine aktive Rolle bei der Verbesserung unserer Gesellschaften spielen können. Ich bin guter Hoffnung, dass viele andere Länder ebenfalls politische Vorgaben umsetzen werden, die Frauen unterstützen und die Anwendung geschlechtsspezifischer sexualisierter Gewalt in Konfliktregionen bekämpfen, weil ich weiß, dass weibliche Entscheidungsträgerinnen und ihre männlichen Verbündeten darauf drängen werden. Menschen, die wissen, dass wir uns alle gemeinsam erheben können. Weil wir gemeinsam die bessere Welt schaffen können, die wir sehen wollen. Weil wir gemeinsam verhindern können, dass andere Menschen erleben müssen, was meine Gemeinschaft und ich erleben und erleiden mussten.
Weibliche Fähigkeit zu starker Führung
Mich tröstet das Wissen, dass dank der unzähligen Beispiele von Frauen überall auf der Welt kein Zweifel mehr daran besteht, dass Frauen in allen Lebensbereichen effektive und einflussreiche Führungspersönlichkeiten sein können. Unsere Fähigkeiten sollten aber nicht als »den Männern gleichwertig« beurteilt werden, sondern nach ihren eigenen Verdiensten und Eigenschaften.
Frauen erinnern mich ständig daran, was genau unsere Talente bei allen Unternehmungen sind: unsere fürsorgliche und mitfühlende Natur, unsere Empathie anderen Menschen gegenüber und unsere Fähigkeit, mit gutem Beispiel voranzugehen. Unser Anteil am und unsere Führungsrolle beim Aufbau widerstandsfähiger Gesellschaften und Nationen ist längst unter Beweis gestellt, doch nun muss sie auch von jenen anerkannt werden, die sich immer noch an eine ungleiche Machtverteilung klammern, die nur ihnen selbst nützt. Es wird höchste Zeit zuzugeben, dass noch viel mehr dieser weiblichen Qualitäten auf dem Feld der internationalen Politik und Entwicklung benötigt werden, wenn wir wirklich eine diverse, gerechte und inklusive Welt schaffen wollen.
Mehr über Nadia’s Initiative: https://www.nadiasinitiative.org/