„Wir fühlen uns als EU-Bürger“
Wachsender Nationalismus in Polen sorgt Befürworter eines geeinten Europas. Aber wie stehen die Menschen wirklich zur EU?
Es erscheint widersprüchlich: Seit Jahren zeigt sich die große Mehrheit der Polen in Umfragen europafreundlich. Gleichzeitig gewann bei den polnischen Parlamentswahlen 2015 und bei den Kommunalwahlen im Oktober 2018 die euroskeptische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, kurz PiS) – wenn auch mit einer geringen Wahlbeteiligung von knapp über 50 Prozent.
Die PiS hält nun die Mehrheit im Parlament und agiert offen gegen die EU, indem sie Kritik übt, Gesetzesänderungen durchsetzt, die gegen EU-Grundsätze verstoßen, und der Europäischen Union die Unterstützung verweigert, beispielsweise bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Es wirkt, als herrsche eine politische Entfremdung im Land, wenn bestimmte Wählergruppen den Ausgang von Wahlen entscheidend bestimmen. Wie passt das zusammen?
Pro-europäische Mehrheit in Polen
„Die offiziellen Äußerungen der polnischen Politik sollten nicht mit der Einstellung gleichgesetzt werden, die die Menschen in Polen gegenüber der EU haben“, sagt Bernd Vogenbeck, Programm-Manager des Körber History Forums bei der Körber-Stiftung in Hamburg.
„Die Ergebnisse unseres Deutsch-Polnischen Barometers 2018 zeigen, dass sich fast drei Viertel der Polen mit Europa identifizieren. Und die Hälfte der Polen spricht sich für eine Vertiefung der europäischen Integration aus.“ Das Deutsch-Polnische Barometer ist eine repräsentative Umfrage des polnischen Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (ISP) sowie der Körber- und der Konrad-Adenauer-Stiftung in Deutschland.
Unter jungen Menschen in Polen sei die Identifikation mit Europa noch deutlicher ausgeprägt, so Vogenbeck: „Für die Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen liegt der Zustimmungswert bei 83 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland ist dieser Wert mit 59 Prozent deutlich niedriger.“
Mangel an politischer Bildung
Die Zustimmung der Menschen in Polen zur EU sei über Jahre konstant, ergänzt Agnieszka Łada, Direktorin des Europa-Programms und Senior Analyst am Warschauer ISP. „Wir fühlen uns als EU-Bürger und sind froh, in der EU zu sein.“ Das gelte über alle Altersgrenzen hinweg.
Die jungen Leute in Polen seien in der EU aufgewachsen, erklärt Łada. Sie reisen, nehmen an Erasmus-Programmen teil; das sei für sie eine Selbstverständlichkeit. An der Grenze Schlange stehen – so etwas kennen sie nicht.
Oft fehle allerdings das Bewusstsein dafür, dass man sich als Bürger politisch engagieren und Verantwortung übernehmen sollte. Sowieso hätten in Polen die Politik, die Politiker einen schlechten Ruf. „Und so kommt es, dass viele sich einfach nicht für Politik interessieren“, so Łada. „Sie nutzen auch wenig die klassischen Medien – das ist natürlich nicht nur bei polnischen Jugendlichen so.“
In Polen aber komme dazu, dass das Bildungssystem stark auf Auswendiglernen ausgerichtet sei. „Polnische Jugendliche sind anders erzogen – und das hat Folgen“, sagt die Expertin. Es mangele an politischer Bildung. „Man erfährt zu wenig und lernt zu wenig eigene Schlussfolgerungen zu ziehen.“
Im Zuge einer Schulreform im Jahr 2017 seien außerdem die Lehrbücher umgeschrieben worden. Der Schwerpunkt liege nicht auf Europa, sondern nun auf nationaler Geschichte und Literatur. „Viele Jugendliche finden das spannend – Pathos, Helden, polnische Heldengedichte.“ Den Lehrern lasse der gut gefüllten Lehrplan wenig Zeit für ein zusätzliches Europa-Programm.
Furcht vor Verlust der Unabhängigkeit
Und warum zögert die polnische Bevölkerung bei der Unterstützung der europäischen Integration? Viele Menschen in Polen, aber auch in anderen Ländern westlich der Oder fürchteten sich vor Veränderungen, erklärt Łada. Das habe auch mit der Angst vor dem erneuten Verlust ihrer Unabhängigkeit zu tun. Die Vorstellung, sich Vorgaben aus Brüssel unterordnen zu müssen, schüre Ängste, die wiederum mit mangelndem Wissen über die Funktion der EU zu tun hätten. Das mache Menschen anfällig für den Einfluss von Populisten.
Dennoch ist Łada überzeugt, dass sich Polen der westlichen Gemeinschaft zugehörig fühlen und die Vorteile sehen - wie die freie Meinungsäußerung oder die EU-Förderung für Landwirtschaft und Infrastruktur. Aber die Polen suchten auch Sicherheit – etwa vor militärischen, wirtschaftlichen und politischen Angriffen des starken Nachbarn Russland. „In der EU gibt es Sicherheit“, sagt Łada.
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