„Das Schicksal in die eigene Hand nehmen“
Afrika braucht keine Entwicklungshilfe, sondern Selbstbewusstsein, sagt Veye Tatah. Die Journalistin benennt wunde Punkte im Verhältnis von Europa und Afrika.
Veye Tatah aus Kamerun ist Informatikerin, Journalistin und ehrenamtliche Chefredakteurin des Magazins „Africa Positive“. Sie arbeitet in Dortmund als Beraterin und setzt sich für eine positive Sicht der afrikanischen Länder ein.
Frau Tatah, Sie kamen 1991 mit 19 Jahren aus dem Kamerun nach Deutschland. Damals brachten Sie ein Afrikabild voller Vielfalt und Lebensfreude mit – aber hier wurden Sie mit einem Afrikabild mit Kriegen, Krisen und hungernden Kindern konfrontiert. Wie ist Afrika wirklich?
Das Afrika, das in Deutschland und anderen westlichen Ländern dargestellt wird, ist für mich ein Konstrukt der eurozentristischen Sichtweise. Alles, was „schwarz“ ist, wird schlecht dargestellt und als minderwertig abgewertet. Afrika ist jedoch ein Kontinent mit 54 Ländern und kein homogener Staat. Wegen dieser einseitigen, verzerrten Berichterstattung über Jahrzehnte hinweg glauben leider viele Europäer – sogar Akademiker –, dass Afrika ein Land im Sinne von Staat sei. Aber die Länder auf dem afrikanischen Kontinent sind so unterschiedlich und vielfältig wie die in Europa. Es gibt über 2000 Sprachen und ebenso viele Kulturen und Traditionen.
Die afrikanischen Nationen sind wie ihre westlichen Pendants in vielerlei Hinsicht unterschiedlich entwickelt. Es gibt Länder mit gut funktionierenden Regierungen, gut entwickelter Infrastruktur und guten Wirtschaftsperspektiven. Auf die andere Seite findet man auch Länder mit großen Problemen und nicht funktionierenden oder versagenden Staatsorganen.
Ja, Armut ist an vielen Ecken anzutreffen, aber genauso Reichtum. Armut ist keine afrikanische Erfindung. Fliegen Sie in die USA und schauen Sie sich um: Laut New York Times vom 7. August 2017 leben allein in Los Angeles 60.000 Obdachlose. So viele Obdachlose habe ich auf meinen Reisen in keinem afrikanischen Land gesehen. Für mich ist Afrika ein bunter Kontinent mit Menschen unterschiedlicher Hautfarbe von Weiß über Braun bis Schwarz. Westliche Hilfsorganisationen profitieren von dem negativen Afrika-Bild, weil sie damit viel mehr Spenden sammeln können. Aber die Wirtschaft Afrikas leidet darunter, weil Kapital und Investitionen nicht nach Afrika kommen.
Nicht zuletzt durch die Migration rückt Afrika immer mehr in den Fokus der deutschen und europäischen Politik. Wie kann eine echte Partnerschaft der Kontinente aussehen, um die drängendsten Probleme zu lösen?
Partnerschaft bedeutet für mich, dass sich beide Partner auf Augenhöhe begegnen. Wenn ich die Beziehung zwischen den afrikanischen und den europäischen Ländern anschaue, gab es noch nie eine wirkliche Partnerschaft. Die Afrikaner sind durch die Europäer und ihre Verbündeten immer bevormundet und ausgebeutet worden.
Europa, aber auch die USA und China, sehen Afrika als Rohstofflager für die eigenen wirtschaftlichen und privaten Bedürfnisse. Und auch als Absatzmarkt für überschüssige Agrarerzeugnisse und nicht EU-konforme Produkte zweiter Wahl, ohne Chance zum Austausch. Aus diesen Gründen war es noch nie im ehrlichen Interesse des Westens, in Afrika Produktionsstätten in afrikanischem Eigentum oder lokale Industrialisierung zu fördern.
Eine echte Partnerschaft muss auf beiderseitigem Gewinn basieren. Das bedeutet, die afrikanischen Länder müssen ihre Rohstoffe vor Ort weiterverarbeiten können, um einen Mehrwert zu erzielen und ihre Erzeugnisse anschließend auf den europäischen Kontinent zu exportieren. Dadurch entstehen afrikanische Arbeitsplätze und neue Perspektiven für die jungen Menschen in Afrika. Aber in manchen Ländern liegen die Besitzrechte für diese Rohstoffe seit der Kolonialzeit immer noch in den Händen der Europäer. Um dieses Privileg aufrecht zu halten, stützt der Westen in einige Ländern Despoten jedweder Art zum Nachteil der Bevölkerung. Eine Folge ist die steigende Zahl junger Menschen, die nach Europa fliehen. Man kann nicht einerseits die Reichtümer Afrikas holen und gleichzeitig erwarten, dass die perspektivlosen Jugendlichen Afrikas zu Hause bleiben.
Wenn die Europäer keine afrikanischen Flüchtlinge mehr vor ihrer Haustür sehen möchten, dann müssen sie endlich aufhören, unfaire Handelsabkommen mit den Afrikanern zu forcieren. Viele afrikanische Ökonomien sind immer noch nicht „entwickelt“. Sie müssen ihre Märkte vorerst schützen, um Industrien aufzubauen. Es ist zudem wichtig, das man aufhört, Despoten mit militärischer Unterstützung an der Macht zu halten.
Warum ist Europa nicht zu einer ehrlichen Partnerschaft mit den afrikanischen Ländern bereit? Ich denke, weil das dazu führen würde, dass dort Produkte deutlich teurer würden und Afrika nicht mehr länger als billiger Absatzmarkt und Rohstofflieferant zur Verfügung stünde.
Sie stellen die Entwicklungshilfe in Frage, weil sie zu oft in falsche Kanäle fließe und zu passivem Denken verleite. Afrika müsse sich seine Zukunft aus eigener Kraft erkämpfen. Wie stellen Sie sich das vor?
Ich kenne kein Land auf dieser Welt, das sich durch Entwicklungshilfe tatsächlich entwickelt hat. Ohne wirtschaftliche Aktivitäten und eigene Produktionsstätten kann sich kein Land aus dem Teufelskreis befreien. Ein Land wie Niger mit riesigen Uranvorkommen sollte normalerweise sehr reich sein. Aber Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt, da Frankreich sich das Uran seit Jahrzehnten sichert und nur Peanuts für das Erzeugerland übriglässt. Aber dafür verkündet der Westen, wie viel militärische Unterstützung nach Niger geht, um dort Terror zu bekämpfen. Wenn Niger seine Uranvorkommnisse zu angemessenen Preisen selbst auf dem Weltmarkt verkaufen würde, bräuchte dieses Land keine sogenannte Entwicklungshilfe. Und es könnte seinen Bürgern eine gute Lebensperspektive bieten, die wiederum den Radikalen die Grundlage entzöge. Dasselbe gilt für die demokratische Republik Kongo und diverse andere Länder.
Deswegen bin ich der Meinung, dass das Konzept Entwicklungshilfe nach der Kolonialzeit eigens dafür geschaffen wurde, um die Entwicklung Afrikas zu verhindern. Und dieses Mittel wird immer öfter als Druckmittel verwendet, um die politische und wirtschaftliche Agenda der westlichen Staaten durchzusetzen.
Die Afrikaner müssen selbstbewusster werden und mehr an sich selbst glauben. Der üble Nachlass der Kolonialzeit hat Minderwertigkeitsgefühle, Passivität und Unselbstständigkeit hinterlassen. Die Erwartung, dass die Lösung diverser Probleme von Gott, aus dem Jenseits und aus dem Westen kommt, muss enden. Die Menschen müssen endlich damit beginnen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und im Sinne der Allgemeinheit zu handeln und nicht nur für ihre eigene ethnische oder politische Clique. Dieses ethnisch orientierte Denken fördert Korruption und verhindert „Nation Building“. Wenn die Besetzung von Arbeitsstellen auf ethnischer Zugehörigkeit basiert und nicht auf Kompetenz und Erfahrung, kann weder ein Unternehmen noch ein Staat gut funktionieren.
Es gibt viele kompetente und patriotische Afrikaner, aber sie haben nicht die Möglichkeit, ihren Beitrag zur Entwicklung ihres Landes zu leisten.
„Wir brauchen einen afrikanischen Frühling“, sagt der Unternehmensberater Asfa-Wossen Asserate, der einst aus Äthiopien nach Deutschland kam. Er fordert die Unterstützung der Reformkräfte. Wäre das ein gangbarer Weg?
Ein afrikanischer Frühling muss aus dem Inneren der Länder heraus entstehen. Die Menschen vor Ort müssen erkennen, dass nur sie selbst ihre Lebensumstände verändern können, niemand sonst. Entwicklung beginnt im Kopf. Deswegen glaube ich, dass in vielen Ländern Afrikas eine gut funktionierende unabhängige Medienlandschaft unabdingbar für den Demokratisierungsprozess ist. Die Medien können positive, inklusive Denkweisen in Gang zu setzen – wenn sie sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Gesellschaftliche Veränderungen sind langwierig und schwierig umzusetzen, aber wir müssen die Geduld dazu aufbringen, diese Prozesse zu begleiten. Die Reformer müssen natürlich unterstützt werden.
Gleichzeitig bemängelt Asfa-Wossen Asserate, dass die „guten Leute alle nicht mehr in Afrika sind“. Auch Sie haben hier Karriere gemacht und sind heute in Dortmund als Diplom-Informatikerin in Beratung und Projektmanagement tätig. Wäre eine solche Kompetenz in Ihrer Heimat nicht dringender nötig?
Herr Asserate hat recht. Es gibt im Westen inzwischen viele gut ausgebildete Menschen afrikanischer Herkunft. Die Mehrheit ist bereit, nach Hause zu fliegen und die Entwicklung ihre Länder voranzubringen. Doch die staatlichen Strukturen sind in vielen Ländern schwach, statt Rechtsstaatlichkeit herrscht viel Willkür.
Ich fliege sehr oft nach Hause und besuche auch andere afrikanische Länder. Ich beobachte, wie die Menschen vor Ort ihren Mitmenschen Steine in den Weg legen und so die Entwicklung der Länder verhindern. Wenn diese Mentalität sich nicht ändert, wird es für die vielen Menschen in der Diaspora schwierig sein, nach Hause zurückzukehren.
Versuchen Sie einmal, in meinem Heimatland Kamerun ein kleines Unternehmen zu gründen… Die Zuständigen haben null Interesse daran, diesen Prozess zu beschleunigen, obwohl die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch ist und dieses Problem immer drängender wird. Diese Leute denken nur an den Inhalt ihrer eigenen Tasche und nicht an das Land und schon gar nicht an die normalen Bürger.
Das Problem Afrikas ist nicht das fehlende Geld, sondern die richtige Einstellung zum Aufbau nachhaltiger Strukturen für die nächste Generation. Die verkrusteten politischen Strukturen in einigen Staaten müssten von Grund auf reformiert werden. Sonst böte man dem Kunden, den Bürgern, den ausländischen Investoren, lediglich alten Wein in neuen Schläuchen.
Interview: Martin Orth