Viele Blicke auf Europa
Wie sieht Europas Zukunft aus – und wird es künftig mehr oder weniger Gemeinschaft geben? Zu Besuch bei Fachleuten in Frankfurt am Main.
Wer an einem einzigen Tag die Europäische Zentralbank und die Zentrale der deutschen Bundesbank in Frankfurt am Main besucht, der macht eine kleine Zeitreise. Hier der gläserne, hoch aufragende Neubau, dort die kastenförmige Erinnerung an die Nachkriegsmoderne. Hier also die strahlende europäische Zukunft, dort das nationale Auslaufmodell? Auch dieser Frage gingen die internationalen Teilnehmer der Reise mit dem Titel ‚Quo vadis, Europa? – die Zukunft der Europäischen Union‘ nach. Im Rahmen des Besucherprogramms der Bundesrepublik Deutschland lernten sie verschiedene Orte in Berlin und Frankfurt am Main kennen und tauschten sich mit deutschen Experten über die politische und wirtschaftliche Entwicklung Europas aus.
Und dabei hörten sie durchaus Skepsis. Immer mehr Europa, immer weniger Nationalstaat? Nicht jeder hält das für realistisch. Martin Rösch ist bei der Bundesbank zuständig für politische Kommunikation. Im Gespräch macht er deutlich, dass er bei vielen Staaten nur eine begrenzte Bereitschaft sieht, weitere Souveränität auf Brüssel zu übertragen. „Aber Emmanuel Macron schlägt genau das vor“, sagt Milena Lazarević. Sie ist Programmleiterin beim serbischen Thinktank European Policy Centre. Ob sie denn glaube, dass die Serben allzu viel Entscheidungsmacht an Brüssel abgeben wollen, wenn sie EU-Mitglied werden, fragt Rösch. „Ich persönlich würde es jedenfalls sofort tun“, sagt Lazarević und hebt an zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für mehr Integration. „Ich glaube, dass Europa in der globalen Bedeutungslosigkeit verschwinden wird, wenn es sich nicht weiter in diese Richtung bewegt.“
Was die internationalen Gäste – darunter viele Journalisten – beim Besuch der Bundesbank natürlich ebenfalls bewegt: Wird deren jetziger Präsident Jens Weidmann der nächste Präsident der EZB, wenn Mario Draghis Amtszeit im Oktober 2019 endet? So wird es derzeit oft berichtet – dass Martin Rösch dazu nichts sagen kann, ist klar. „Ich glaube ohnehin, dass wir wegmüssen von diesem nationalen Denken – wer auch immer der nächste EZB-Präsident wird, ist dann nicht mehr Deutscher, Franzose oder Italiener, sondern Europäer. Er macht Politik für die Eurozone.“ Der portugiesische Journalist David Alexandre Melo Santiago von der Tageszeitung Jornal de Negócios erzählt, dass man in seinem Land sehr gespannt auf die Personalentscheidung warte. Als Draghi 2012 versprach, die EZB werde „innerhalb ihres Mandats tun, was immer nötig sein wird, um den Euro zu schützen“, sei das für die kriselnden südeuropäischen Staaten ein wichtiges Zeichen gewesen. „Insofern schauen wir auch ein bisschen besorgt darauf, wie es weitergeht.“
Eine ganz andere Perspektive bringt Helmut Siekmann in die Diskussion ein. Siekmann ist Professor für Geld-, Währungs- und Notenbankrecht am Institute for Monetary and Financial Stability der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er weist auf die immensen ökonomischen Unterschiede in der EU hin – „nicht nur zwischen den Mitgliedern, sondern auch innerhalb einzelner Staaten“. Für die Zukunft könnte er sich ein Europa vorstellen, in dem sich starke Regionen – auch grenzüberschreitend – zusammentun. Viele Ideen, viel Stoff zum Nachdenken.
Doch Europa – auch das wird bei dieser Reise klar – besteht natürlich längst nicht nur aus Wirtschaft und Finanzen. Europäische Energiepolitik, der Umgang mit Zuwanderung und Integration, die Folgen des Brexit – all diese Themen spielen bei dem Besuch eine Rolle. Quo vadis, Europa? Darauf gibt es viele Antworten.