Reisende zwischen Ländern und Disziplinen
Was verbindet Sinologie und Mathematik? Ihre Forschung dazu hat die deutsche Professorin Andrea Bréard bereits um die halbe Welt geführt.
Frau Professorin Bréard, Sie forschen an den Schnittstellen von Sinologie und Mathematik – wie haben Sie Ihr ungewöhnliches Forschungsfeld entdeckt?
Durch eine lange Reihe von Zufällen! In der Schule habe ich mich genauso für Sprachen begeistert wie für Mathematik. Auch ein Zahnmedizinstudium oder eine Tischlerlehre konnte ich mir nach dem Abitur gut vorstellen. Den Ausschlag gab, dass mir mein Großvater seinen Computer vererbte. Ich brachte mir die Programmiersprache BASIC bei und schrieb mich an der Technischen Universität München für Mathematik und Informatik ein. Nebenher studierte ich an der Ludwig-Maximilians-Universität München Sinologie. Mein Job in den Semesterferien war es, an Siemens-Standorten im Ausland Computerkurse zu geben, unter anderem in Peking. China hat mich so fasziniert, dass ich nach dem Diplom nach Shanghai ging, um mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) an der Universität Fudan Wissenschaftsgeschichte zu studieren. Außerdem hatte ich einen Traum: mit dem Mountainbike durch Tibet zu fahren.
Haben Sie ihn verwirklicht?
Oh ja, ich bin drei Monate lang allein durch das tibetische Hochland geradelt. Ich habe in Klöstern und bei Nomaden übernachtet und mich mit einem Kompass und einer Wanderkarte des Deutschen Alpenvereins orientiert; die Reitpfade der Nomaden waren meine Fahrradwege. Darauf, dass die Gegend auf 3.000 Metern und höher liegt, hatte ich mich vorbereitet, indem ich im Langstreckenlauf-Team der Universität Fudan trainierte. Dabei freundete ich mich mit einer Teamkollegin an und lernte über sie viele Chinesinnen und Chinesen kennen, auch einen Nachbarn ihres Onkels, der Mathematikhistoriker war. Er nahm mich in Bibliotheken mit und lehrte mich, antike Manuskripte auf Bambusstreifen und algebraische Texte aus dem Mittelalter zu lesen. Das hat mich nicht mehr losgelassen!
Ist chinesische Mathematik anders als europäische?
In beiden Kulturen beginnt die Mathematikgeschichte vor mehr als 2.000 Jahren. Während Beweise seit Euklid das Fundament der westlichen Mathematik sind, ist die chinesische Mathematik aber rein algorithmisch: Das bedeutet, es werden schrittweise Operationen aufgelistet, um bestimmte mathematische Probleme zu lösen. Eine weitere Besonderheit ist, dass in chinesischen Mathematiktexten noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts keine Formeln verwendet wurden, sondern nur Wörter. Zwischen einem historischen Mathematikbuch und einem Roman sieht man auf den ersten Blick keinen Unterschied. Es gibt in China sogar eine lange Tradition von Gedichten, die mathematische Operationen beschreiben und zu bestimmten Melodien gesungen werden.
Wie weit können Ihnen die Sinologiestudierenden ins Reich der Mathematik folgen?
Einer meiner Forschungsschwerpunkte ist der Einfluss der mathematischen Statistik auf die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des modernen chinesischen Staates. Um sich damit zu beschäftigen, müssen die Studierenden nicht tief in die Mathematik eintauchen. Als politisches Steuerungsinstrument hat Statistik die chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt – von der beispiellosen Hungerkatastrophe, die durch Maos Planwirtschaft verursacht wurde, bis zur Einführung der Ein-Kind-Politik. Für Nicht-Mathematiker zugänglich ist auch die Kulturgeschichte der chinesischen Mathematik, die von den Zahlinschriften auf antiken Orakelknochen bis zu Zahlencodes in der heutigen Popmusik reicht.
Nach Ihrer Doppelpromotion über chinesische Mathematikgeschichte haben Sie unter anderem in New York, Lille, Berlin, Heidelberg und Peking geforscht und gelehrt, ab 2017 als Mathematikprofessorin an der Université Paris-Saclay. Wie war das Reisen zwischen den Ländern und Disziplinen für Sie?
Ich habe es immer sehr genossen, neue Städte und Länder kennenzulernen – aber nur gründlich, ich möchte mindestens ein Jahr am normalen Leben dort teilnehmen. Meine Kinder empfinden zum Glück ähnlich und hatten gegen die Umzüge nichts einzuwenden. Schwierig war es manchmal, wissenschaftlich auf zwei Stühlen zu sitzen. Ich wurde immer wieder gefragt, wo ich mich nun eigentlich verorte, in der Sinologie oder in der Mathematik. Gerade dass meine Schnittstelle so ungewöhnlich ist, hat aber wohl die Alexander von Humboldt-Stiftung überzeugt, mir die Humboldt-Professur zu verleihen.
Mit welchem Argument überzeugen Sie junge Menschen, Sinologie zu studieren?
China hat eine unglaublich faszinierende Sprache und Kultur und in chinesischen Großstädten fühlt man sich wie auf einer Zeitreise in die Zukunft: Alles wird per Handy erledigt, der Verkehr ist fast komplett elektrifiziert. Alle politischen Differenzen ändern nichts daran, dass China einfach ein superspannendes und facettenreiches Land ist.
Die Sinologin und Mathematikerin Prof. Dr. Dr. Andrea Bréard hat seit 2021 eine Humboldt-Professur für Sinologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) inne. Seit April 2024 ist sie als Vizepräsidentin Education der FAU zuständig für die Anwerbung von Studierenden und Angebote zur Verbesserung des Studienerfolgs und beschäftigt sich mit Fragen zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz.