„Er war gegen jeden Nationalismus“
Tobias Korenke, Großneffe des Theologen und NS-Gegners Dietrich Bonhoeffer, über das Nachwirken seines vor 80 Jahren hingerichteten Vorfahren in den USA.

Herr Dr. Korenke, vor 80 Jahren, am 9. April 1945, wurde Ihr Großonkel Dietrich Bonhoeffer von den Nazis hingerichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhren Widerstandskämpfer in der Bundesrepublik nicht sofort Anerkennung. Wie war das für Ihre Familie?
Dietrich war der jüngere Bruder meiner Großmutter Ursula. Hingerichtet wurden neben ihm auch Ursulas Mann Rüdiger Schleicher, also mein Großvater, ihr älterer Bruder Klaus Bonhoeffer sowie ihr Schwager Hans von Dohnanyi, außerdem zahlreiche ihrer Freunde. Die Zeit nach 1945 war für meine Großmutter, meine Mutter und ihre Geschwister schwer. Dass ihre geliebten Angehörigen von Deutschen ermordet wurden, haben sie nie verwunden. Ein großer Teil der bundesdeutschen Öffentlichkeit – ich nenne sie polemisch Republik der Blockwarte – lehnte die Widerstandskämpfer ab. Ihr Schicksal erinnerte sie daran, dass es doch Menschen gegeben hatte, die in der Nazizeit ihrem Gewissen gefolgt waren. Viele Menschen dachten auch: Die Bonhoeffer-Familie, die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg und andere sind ja gescheitert. Widerstand gegen Hitler konnte also nicht erfolgreich sein – es gab somit keinen Grund, es zu versuchen.
Viele Menschen sagten: Wir waren eben keine Helden.
Das wollte Dietrich auch nicht sein! Der Kinofilm „Bonhoeffer“ von Todd Komarnicki stellt ihn in unerträglich kitschiger Weise als Märtyrer dar. Ganz schlimm die Hinrichtungsszene. Sie spielt auf einem Hügel, in einer romantischen Landschaft. Sie soll offensichtlich an Jesu Tod auf Golgatha erinnern. Die Szene wirkt so, als habe sich Dietrich geradezu nach dem Tod gesehnt. Abgesehen davon, dass seine letzten Minuten im Konzentrationslager Flossenbürg brutal anders waren als es der Film zeigt: Dietrich hat wahnsinnig gerne gelebt. Er liebte seine Verlobte Maria, seine Familie, seine Freunde, die Musik, gutes Essen. Er wollte einfach anständig leben – und wandte sich deshalb gegen Unrecht, gegen Ausgrenzung, Verfolgung und Diktatur. Gerade Kirchenvertreter heben ihn oft auf einen Sockel und machen ihn dadurch unerreichbar. Wir können aber nur von ihm lernen, wenn wir ihn als Menschen begreifen, als einen von uns, auch mit seinem fortwährenden Zweifel: Handele ich eigentlich richtig?

Sie sagen, Dietrich Bonhoeffer wird auch von Christinnen und Christen in den USA instrumentalisiert. Inwiefern?
Evangelikale, die mit der rechtsgerichteten Politik von Donald Trump sympathisieren, stellen ihn als evangelikalen Heiligen dar, als Vorkämpfer des Nationalismus. Ihre These: Die Nazis hätten Deutschland gegen den Willen des deutschen Volkes besetzt, und heute würden woke Aktivistinnen und Aktivisten die USA besetzen. Dagegen müssten sie sich notfalls auch mit Gewalt wehren; dabei berufen sie sich auf Bonhoeffer. Im vergangenen Herbst ist das neue Biopic „Bonhoeffer. Pastor. Spy. Assassin“ in den USA in diesem Sinne vermarktet worden. Der Film wurde offenbar gerade im US-Präsidentschaftswahlkampf aggressiv beworben, unter anderem mit einem Plakat, auf dem Dietrich mit einer Pistole zu sehen ist. Er war aber Pazifist und gegen jeden Nationalismus.
Schon vor einigen Jahren erschien eine Bonhoeffer-Biografie des Publizisten Eric Metaxas, ein Bestseller in den USA. Wie gefällt sie Ihnen?
Sie ist gut geschrieben, aber sie zeichnet das verfälschende Bild eines evangelikalen Heiligen. Metaxas hat sich in den vergangenen Jahren radikalisiert und forderte im Zusammenhang mit dem Bonhoeffer-Film: So, wie Dietrich gegen die Nazis Widerstand leistete, müsse man heute woken Ideen und den Politikerinnen und Politikern der Demokraten widerstehen. In einem Post auf X setzte Metaxas den damaligen US-Präsidenten Joe Biden mit Hitler gleich. Meiner Familie, die sich im Herbst 2024 in einem offenen Brief gegen die Vereinnahmung von Bonhoeffer durch evangelikale Nationalisten verwehrte, warf er vor, wir seien genau die Art Menschen, die Dietrich bekämpft habe. Andere Evangelikale beschimpften uns übrigens sogar als Antisemiten. In den USA war die Resonanz auf unseren Brief riesig – sowohl ablehnend als auch zustimmend.
Dietrich Bonhoeffer war für die Freiheit, für den Rechtsstaat. Er stellte sich auf die Seite der Schwächeren.
In evangelikalen Kreisen kursieren sogar erfundene Bonhoeffer-Zitate, die ein Schwarz-weiß-Bild von der Welt zeichnen. Was macht das mit Ihnen?
Natürlich freuen wir uns darüber, dass Menschen in den USA sich schon in den 1950er-Jahren für Bonhoeffer begeistert haben! Aber dass er heute mit Lügen und gefälschten Zitaten von Nationalisten in ein falsches Licht gestellt wird, dagegen wehren wir uns entschieden. Dass Menschen ausgegrenzt werden, war ihm unerträglich. Während seiner beiden Aufenthalte in den USA knüpfte er enge Kontakte zu schwarzen Gemeinden und prangerte den Rassismus an. Er war für die Freiheit, für den Rechtsstaat. Er stellte sich auf die Seite der Schwächeren.
Was verbindet Sie mit den USA?
Ich liebe dieses Land – den Humor, die Höflichkeit, die Offenheit und die Freiheitsliebe seiner Bürgerinnen und Bürger. Den unkomplizierten Umgang miteinander finde ich wunderbar! Doch gerade erleben wir, dass sich immer mehr autoritäre, ja, wie der Historiker Jason Stanley sagt, faschistische Denkweisen durchsetzen. Dagegen regt sich endlich Widerstand – aber noch nicht genug.