Multikulturelle Geschwister
Zwei Schulen in Essen und Tel Aviv wollen voneinander lernen: Wie muss Unterricht sein, damit Integration gelingt?
Deutschland. Im Klassenzimmer der Essener Schule brach die Lehrerin aus Tel Aviv in Tränen aus: „Wir sind gar nicht alleine.“ Die israelische Pädagogin unterrichtet an der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv, überhäuft mit Preisen, Vorbild in Israel, sogar Gegenstand eines Oscar-prämierten Kurzfilms. Und diese Schule hat unlängst entdeckt, dass sie so etwas wie einen Zwilling hat. Ausgerechnet in Deutschland, in Essen: die UNESCO-Schule. Die UNESCO-Schule, die dieses Prädikat seit rund 25 Jahren tragen darf, ist ein Aufbaugymnasium. Hierher kommen Schüler von Haupt- und Realschulen ab der siebten Klasse, bei denen die Lehrer entdecken: Das Leistungs- und Lernvermögen stimmt, nur die deutsche Sprache ist für sie eine Barriere. „Wir haben hier die Möglichkeit, bis zu neun Stunden pro Woche Deutsch zu unterrichten und machen Zusatzangebote bis in die Oberstufe hinein“, sagt Schulleiterin Annette Vogt.
Das Ergebnis: Vier von fünf Jugendlichen verlassen die Schule mit dem Abitur. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, aber auch Flüchtlingskinder vom Balkan, aus Afrika und Asien – rund 500 Kinder aus mehr als 40 Ländern, die mehr als 30 Sprachen sprechen. Die Schule in Tel Aviv ist ähnlich multikulturell. „Als sich die Jugendlichen beim Schüleraustausch trafen, konnte man nicht unterscheiden, wer aus Deutschland und wer aus Israel kam“, erinnert sich Annette Vogt. Im Sommer 2016 gab es erste Kontakte zwischen den beiden Schulen – denn Essen und Tel Aviv sind Partnerstädte und der Film über die Bialik-Rogozin-Schule hatte die Lehrer der UNESCO-Schule neugierig gemacht. Drei reisten nach Israel, bahnten den Schüleraustausch an.
Klaus Kirstein, einer der deutschen Lehrer, erzählt auch nach anderthalb Jahren noch begeistert vom ersten Treffen: „Die Schüler sind sofort auf uns zugegangen und haben mit uns getanzt.“ Die Bialik-Rogozin-Schule ist berühmt für ihre musische Ausbildung – wo die Sprache die Barriere ist, sind womöglich Musik, Malerei und Tanz die Stärken. Dass Schulleiter Eli Nechama ein ehemaliger Schauspieler ist, trägt zu diesem Schulklima bei. Umgekehrt bewunderten die israelischen Lehrer und Schüler die Ruhe und Disziplin an dem deutschen Gymnasium. „Manche Dinge, die die Schule in Israel leistet, insbesondere durch die Einbindung von Ehrenamtlichen, gibt es hier bei uns auch, nur nicht im System Schule“, weiß Annette Vogt. Anders als in Tel Aviv ist in Essen auch das Sprachlernangebot für die Eltern von Flüchtlingskindern organisiert. Es findet außerhalb der Schule statt.
Lernort mit besonderer Atmosphäre
So kommt es, dass die Essener Schule viel eher als klassische Schule wahrgenommen wird, während die etwa viermal größere Schule in Tel Aviv mehr wie ein Kultur- und Begegnungszentrum wirkt – sie unterrichtet bereits ab der ersten Klasse, ist von morgens sechs bis abends acht für Eltern und Familien da. Das verändert die Atmosphäre des Lernortes – und die Bindung zwischen Lehrern und Schülern.
Johnson Blay, heute Abiturient, erzählt begeistert von dem guten Verhältnis von Lehrern und Schülern, das er in Tel Aviv beobachtet hat: „Die Lehrer haben dort eine viel engere Beziehung zu ihren Schülern und reden mit ihnen auch über private Dinge.“ Das ist auch dem deutschen Fernsehjournalisten Norbert Kron aufgefallen, der über die ungewöhnliche deutsch-israelische Schulpartnerschaft ein Buch geschrieben hat: „Eli Nechama, der israelische Schulleiter, darf Schüler eigentlich nicht umarmen, aber er macht das.“ Die deutsche Schule, so sein Eindruck, kann von der israelischen Schule vor allem lernen, mehr außerhalb der Regeln zu denken und zu agieren. Für Kron ist die Bialik-Rogozin-Schule „die beste Schule für Einwanderer“.
Und noch etwas hat Norbert Kron ausgemacht – und auch Schulleiterin Vogt: Während die UNESCO-Schule in ihrem Leitbild auf die Menschenrechte und die internationale Perspektive setzt, stützt sich die Bialik-Rogozin-Schule auch darauf, ein positives Verhältnis, ja beinahe Nationalstolz auf Israel bei den Schülern aus Flüchtlingsfamilien zu gewinnen: „Da werden am Gedenktag für die Soldaten auch Israelfahnen geschwenkt und die Hymne gesungen – an deutschen Schulen undenkbar“, erinnert sich Kron.
Die Familie sollte wachsen
Gleichzeitig aber lernen die Flüchtlingskinder in Tel Aviv als dritte Sprache nach Hebräisch und Englisch ihre Muttersprache – ihre Wurzeln sollen sie weder verleugnen noch vergessen. So kam es zur Verblüffung der Lehrer beim Schüleraustausch dazu, dass sich die Jugendlichen aus Essen und Tel Aviv eben auch mal auf Arabisch oder Farsi unterhalten konnten. Nach dem ersten großen Kennenlernen wollen beide Schulen nun auch gemeinsame Projekte entwickeln, beispielsweise im Sport, in Kunst oder Stadtteilgestaltung. Dennoch ist es für die UNESCO-Schule nicht ganz leicht, den Spagat zu schaffen zwischen Projektarbeit und deutschen Lehrplänen – und trotzdem auf die besonderen Lebens- und Lernbedingungen ihrer Schüler einzugehen, die meist ohne Unterstützung durchs Elternhaus ins Leben und zum Lernerfolg finden müssen.
Noch etwas ist bemerkenswert: Der Austausch zwischen den beiden besonderen Schulen ist weniger geprägt von der Erinnerung an den Holocaust als an vielen anderen Schulen. Die Schüler auf beiden Seiten haben daran kaum familiäre Anbindungen. Was allerdings für alle eine Rolle spielt: Die Frage des Verhältnisses insbesondere von Muslimen zu Juden und die stets aktuelle Frage, wie eine Gesellschaft mit Minderheiten und fremden Kulturen umgeht. Man könnte sagen: In diesem Austausch zeigt sich, dass Geschichte mehr sein muss als Erinnerungskultur – die Lehren aus der Geschichte müssen hier die Gegenwart prägen.
Dass in einem multiethnischen Ballungsraum unter dem Eindruck neuer Zuwanderer und Flüchtlingskinder eigentlich alle Schulen in diese Richtung denken müssten, steht auf einem anderen Blatt. So gut es ist, dass die Bialik-Rogozin- und UNESCO-Schule entdeckt haben, dass sie nicht allein auf dieser Welt sind mit ihrer Haltung, so wünschenswert wäre es, dass die Zwillinge, die vielleicht doch eher Geschwister sind, möglichst bald in eine noch größere Familie eingebunden sind.