„Kaum möglich, im öffentlichen Raum politisch zu handeln“
Der Osteuropahistoriker Alexey Tikhomirov über Opposition in Russland, Kriegsmüdigkeit und aggressive Propaganda.
Alexey Tikhomirov ist Osteuropahistoriker an der Universität Bielefeld und Fellow am Käte Hamburger Kolleg „Einheit und Vielfalt im Recht“ an der Universität Münster. Der Wissenschaftler mit Wurzeln in Russland und Italien veröffentlicht regelmäßig zur Situation der russischen Gesellschaft und deren historisch gewachsenen Bedingungen.
Herr Dr. Tikhomirov, Wladimir Putin soll bei den Präsidentschaftswahlen Mitte März 2024 mehr als 87 Prozent der Stimmen gewonnen haben. Wie blicken Sie auf die Stimmung in der russischen Bevölkerung?
Aus offizieller Sicht ist das Ergebnis das Beste, das bei Präsidentschaftswahlen in der jüngsten russländischen Geschichte jemals erreicht wurde. Die Propaganda interpretiert es als höchsten Ausdruck des Vertrauens der Bevölkerung in Putin. Es gehört zu autoritären Ordnungen, durch Wahlen den Eindruck des sozialen Konsensus und ideologischer Einheit hinter dem nationalen Führer herstellen zu wollen. Tatsächlich gibt es aber deutliche Zeichen, dass Teile der Bevölkerung sowohl des Systems Putin als auch des Krieges müde sind: Als sich der Antikriegskandidat Boris Nadeschdin für die Präsidentschaftswahl nominieren ließ, standen die Leute Schlange, um für ihn zu unterschreiben. Doch Putin ließ nicht zu, dass Nadeschdin gegen ihn antrat. Auch zu Alexej Nawalnys Beerdigung erschienen trotz Einschüchterungsversuchen Tausende, und zwar aus allen Generationen. Viele riefen Antikriegsparolen. Das dritte Zeichen: Putin-Gegner hatten dazu aufgerufen, am Wahlsonntag um 12 Uhr in den Wahllokalen zu erscheinen. Tausende kamen dem nach. Es kursieren Berichte darüber, dass Menschen Sätze wie „Nein zum Krieg!“ und „Nawalny ist mein Präsident!“ auf die Wahlzettel schrieben. Es gibt genug Hinweise, dass die Legitimität Putins nicht allgegenwärtig ist.
Auch außerhalb von Moskau und St. Petersburg?
Ja, auch in Städten wie zum Beispiel Barnaul, Jekaterinburg, Tscheljabinsk und Wladiwostok. Trotzdem muss man sich vergegenwärtigen: Es gibt kaum eine organisierte Opposition in Russland. Viele Oppositionelle und Kriegsdienstverweigerer sind ins Ausland geflohen. Aufgrund der strengen Gesetze, die zu Beginn der Invasion erlassen wurden, ist es kaum möglich, im öffentlichen Raum politisch zu handeln. Das Regime definiert klare Grenzen, was man sagen darf und was nicht. Wer die festgelegte Ordnung verletzt, rettet sich ins Exil oder sitzt im Gefängnis. Deshalb organisieren Kriegsgegner vor allem spontane und anonyme Aktionen. Eine wichtige Initiative von unten ist zum Beispiel der Feministische Antikriegswiderstand. Die Initiatorinnen verurteilten schon zwei Tage nach der Invasion in die Ukraine in einem Manifest die patriarchale Gewalt. Auch andere Frauen engagieren sich, weil sie nicht wollen, dass ihre Männer in diesem Krieg sterben. Viele russländische Aktivistinnen und Aktivisten gehen auf Einzelmahnwachen und verteilen heimlich Schriften gegen den Krieg. Putin bezeichnet sie als ausländische Agenten, die vom Westen finanziert werden. Er hegt den Wunsch, durch die Brandmarkung von Feinden alle Ambivalenzen auszurotten. Der jüngste Terroranschlag des IS in der Crocus City Hall bei Moskau ist nur ein Beispiel, wie Putin die Schuld ohne jeden Beweis der Ukraine und dem „kollektiven Westen“ zuschreibt.
Sie sagen: Viele Menschen in Russland sind inzwischen kriegsmüde. Bedeutet das, die Familien wollen keine Männer mehr an die Front schicken?
In Russland gab es lange eine Art Gesellschaftsvertrag. Viele Menschen dachten: Die Politik berührt uns nicht, und wir mischen uns nicht in die Politik ein. Der Vollangriff auf die Ukraine war für viele erst einmal ein Schock. Anschließend konnte die russländische Gesellschaft aber zunächst weiterleben wie zuvor. Mehrere Monate war der Krieg nur im Fernsehen zu beobachten. Wer es nicht wissen wollte, konnte verdrängen, dass die russischen Streitkräfte das Nachbarland bombardieren. Die Teilmobilmachung im September 2022 war für viele Menschen ein zweiter Schock. Präsident Putin verlangte nun nicht mehr nur ihre Loyalität, sondern auch ihre Ehemänner, Väter und Söhne. Die Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen, ist trotzdem da, erstens aufgrund der aggressiven Propaganda, zweitens aufgrund des Geldes, das die Soldaten bekommen. Die hohen menschlichen Verluste auf russischer Seite bereiten den Behörden wenig Sorgen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums können im Falle einer totalen Mobilmachung bis zu 25 Millionen Männer in die Armee eingezogen werden.
Sie verwenden das Wort russländisch – warum nicht russisch?
Weil in Russland nicht nur Russinnen und Russen leben. Es ist ein Vielvölkerstaat mit mehr als 190 Ethnien, etwa in den Republiken Burjatien, Dagestan und Tschetschenien. Was den Krieg gegen die Ukraine anbelangt, spielen diese sogenannten Minderheiten eine besondere Rolle. Als kolonialer Herrscher schickte Putin anfangs vor allem diese nicht russischen Bevölkerungsgruppen in den Krieg gegen die Ukraine. Viele erhoffen sich, dass sie durch den Militärdienst zu angesehenen Bürgern Russlands werden. Dazu muss man wissen, dass Freiwillige in einigen Regionen Russlands beim Eintritt in die Armee umgerechnet bis zu 10.000 Euro bekommen, anschließend monatliche Zahlungen von 2.000 bis 3.000 Euro. Zum Vergleich: Das monatliche Durchschnittseinkommen liegt in Russland zwischen 300 und 600 Euro. Der Kriegseinsatz ist insbesondere attraktiv für Männer aus dem ländlichen Raum, wo das Einkommen unter dem Durchschnitt liegt. Den größten Teil ihres Soldes schicken die Soldaten an ihre Familien. Diese können sich so endlich ein Auto, eine Wohnung, ein Haus kaufen. Ohne dieses Geld wäre das oft unmöglich. Auch die Witwen und Waisen der Gefallenen lässt Putin gut versorgen. Die Kinder der Soldaten dürfen ohne Aufnahmeprüfung an die Hochschulen. Die Witwen dürfen von ihren Arbeitgebern nicht gekündigt werden und genießen weiterhin eine Reihe von Privilegien. Die Kriegsveteranen sollen laut Putin die neue politische Elite bilden und in der Zukunft das Land verwalten.
Putin ließ 2020 bei Moskau eine riesige Kirche einweihen, die den russischen Streitkräften gewidmet ist. Ursprünglich sollten darin neben Abbildungen von Heiligen auch Bildnisse des sowjetischen Diktators Stalin und von Putin selbst zu sehen sein. Welche Rolle spielt die Russisch-Orthodoxe Kirche?
Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist ein Teil des Systems Putin und hat den Auftrag, die Idee der „russischen Welt“ zu verbreiten. Viele Geistliche predigen in seinem Sinn und stellen ihn als Stellvertreter Gottes auf Erden dar. Patriarch Kyrill, der Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche, hat den Krieg gegen die Ukraine mehrmals öffentlich gerechtfertigt. Die Kathedrale bei Moskau wurde in erster Linie für Angehörige der politischen und militärischen Elite Russlands gebaut, die sich in ihrer Ideologie bestätigt wissen wollen. Viele von ihnen inszenieren sich als tiefgläubig und spenden viel Geld für Klöster und Kirchen. Angesichts der von ihnen organisierten Kriegsverbrechen in der Ukraine hoffen sie anscheinend auf eine Entlastung ihres Gewissens.
Wie wird Deutschland in Russland dargestellt?
Deutschland liefert der Ukraine Waffen. Putin nutzt diesen Umstand, um an Hitlers Angriff auf die Sowjetunion zu erinnern – und an die 27 Millionen Menschen, die dabei ums Leben gekommen sind. Nach dem Motto: Wieder sind deutsche Waffen gegen uns gerichtet. Die offizielle Propaganda betont gerne Deutschlands nationalsozialistische Vergangenheit. Und wenn Menschen in Deutschland gegen den Krieg in der Ukraine protestieren, führt die Propaganda das nicht auf Pazifismus, sondern auf eine angeblich bequeme bürgerliche deutsche Gesellschaft zurück. Bemerkenswert ist, dass viele deutsche Politiker in den russischen Medien als schwach, unprofessionell und unmännlich lächerlich gemacht werden. Die russländische Gesellschaft verwandelt sich in eine Lach-Gemeinschaft, die durch die Demütigung und Verachtung gegenüber dem Westen die demokratische Ordnung verteufelt und den inneren Zusammenhalt schmiedet, um Putin als einzigen Retter der Zukunft ins Licht zu setzen.